Am ufer die Zukunft

Die unwiederbringliche Auflösung der Vorstellung, dass die Welt zentralistisch strukturiert sei, erlebte ich während unserer Hasankeyf-Exkursion. Über lange Zeit hatte sich in mir ein mysteriöser Nebel festgesetzt, der mein Bild von Südost- und Ostanatoliens verdeckte. Nicht primär als Landschaft, Lebens- und Kulturraum galt es mir, sondern als aktueller Problemherd und Zankapfel zwischen den verschiedensten Mächten und Ansprüchen. Bis ich mich physisch mittendrin befand. Ich sah unterschiedlichste grandiose Landschaften, die ich bis dahin nicht kannte, und einen echten Ausdruck der Ausweglosigkeit von vielen Menschen angesichts der technischen Machbarkeit übermächtiger Planungen. Gleichzeitig begann in mir ein Prozess des Hinterfragens. Die Städte, glaubte ich bis dahin, seien im Vergleich zu kleineren Siedlungen wichtiger, und die Großstädte wiederum wichtiger als Mittelstädte, dann die Spitze der Pyramide, die Megastädte in unfassbarer Größe und Komplexität, alles beherrschend. Auf unserer Fahrt waren wir außer in Hasankeyf, Halfeti und „Cumhuriyet örnek köyü“ auch in Ankara, Diyarbakir, Dargecit, Ilisu, Midyat, Mardin, Urfa, Nemrut dagi, Adiyaman und Malatya. Ich gehe auf die letzteren Stationen nicht näher ein, weil es den gegebenen Rahmen sprengen würde.

Die qualitative und zukunftssichere Ausformung einer Städtebau und Architektur einem Siedlung oder Region benötigt in erster Linie keine spektakulären Entwürfe, sondern eine angemessene Selbständigkeit sowie mit eigenen Mitteln und Leistungen machbare Versorgungsautarkie die in Grundzügen im Bestand bereits ablesbar sein sollten. Auf der suche nach dieser einfachen aber unter jetzigen Sachzwängen schwer zu verwirklichenden Notwendigkeiten können Raumentwicklungsproblematiken betrachtet werden, was aber nicht davor abschrecken sollte, eine Methode der maximal besten Machbarkeit als Forderung aufzustellen, und nicht abschwächende Kompromisse einzugehen. Schließlich geht es uns alle an, was im globalem Kontext zu besseren klimatischen Verhältnissen, zur Befriedung konfliktreicher Zonen sowie zur Linderung des Elends auf der Erde führen könnte. Es zeigt sich durch immer wieder selbst konterkarierende Massnahmenfolgen, dass Zentralismus dazu nicht in der Lage ist, deshalb wird hier ein anderer, gangbarer Weg der dynamischen Stabilität vorgeschlagen.
Was bewegt uns an Hasankeyf ? Was zieht uns dorthin?
Ein Ort, verspielt und geheimnisvoll. Umspielt von Tigris, von Hügel hinter Hügel umrahmt. In Schluchten übereinanderliegende Bauten und Ruinen vergangener Kulturen, märchenhaft modelliert. Die Hoffnungslosigkeit, die die Menschen aussprechen, lässt sich an dem Zustand der Wohngebäude erahnen. Die Gastlichkeit ist informell und nicht huldigend, wie wir es vielleicht erwartet hätten. Sie haben viele Gäste gehabt, die sich für Hasankeyf und ihre Situation interessieren und das Beste für sie wollen. Diese öffentliche Interessens- und Solidaritätsbekundung der Menschen von überallher hat sie bescheiden werden lassen. Ihre Ängste basieren auf den unvermeidlichen Folgen der Tatsache, dass die mehrfach beschlossene Errichtung des Ilisu-Staudamms nun wahr wird. Ihre Tragödie ist auf der Ebene der global diskutierten Themen und Zusammenhänge angekommen, denn sie erweist sich als ein Akt im Ringen zwischen den widersprüchlichen Erfordernissen technologischer Großprojekte und ökologischer Nachhaltigkeit. Vor diesem Hintergrund bestehen die Menschen aus dem Tigristal darauf, wenn auch nicht laut, dass der „Bann“, der ihnen und Hasankeyf im Namen einer „neuen Zukunft“ auferlegt wurde, wieder abgenommen werden muss. Es ist ihre Aufgabe, ein würdiges Leben in Hasankeyf aufzubauen. Viele, auch hochrangige BesucherInnen beweisen durch ihr Kommen, dass Hasankeyf weltweit noch viele Freunde braucht.
Bürgermeister Vahap Kusum und weitere Stadträte schenkten unserer Exkursionsgruppe Zeit und Freundlichkeit. Am Abend, im Nebenraum des Teehauses im Rathaus, zerrte die Konzentration aller Beteiligten wie ein ungeduldiges Kind am Mantel der Aussichtslosigkeit. Herr Kusum reagierte auf die mitgebrachten Entwürfe unserer Arbeitsgruppen mit Ablehnung. Die StudentInnen, die ihre Arbeiten präsentierten, mussten auf den Verlauf  der Uferkante hinweisen, die der Stausee bilden würde, und von dem sie in einigen Entwürfen als dem ungünstigsten Fall ausgehen. Er sagte direkt: Er möchte keine Zeichnung ansehen müssen, die Hasankeyf in versunkenem Zustand darstellt.
Daraufhin bekräftigten wir, dass die vorliegenden Entwürfe keine von uns erwünschte Situation als Zielvorstellung haben und wir auch von niemandem beauftragt sind, ihm Pläne vorzulegen. Es geht nicht darum, irgendeine Situation zu beschönigen. Unsere Absicht ist, Vorschläge zu entwickeln, welche die angekündigte Verdrängung der Bewohner aus Hasankeyf und weiteren Orten entlang des Tigris in ihrer ganzen Tragweite begreiflich machen. Mit raumplanerischen und architektonischen Methoden, die praktischen Auswirkungen großer Veränderungen wie Umsiedlungsvorgänge zu erfassen. Und auf diese Weise auch die Investoren (und Befürworter großer Staudammprojekte generell) auf die Notwendigkeit eines angemessenen Verlustausgleichs hinzuweisen. Natürlich wäre es ein großer Erfolg, wenn unsere Arbeiten zusammen mit vielen anderen Bemühungen dazu beitragen könnten, einen Konsens für ökologisch unbedenkliche Lösungen zu finden, die für eine friedliche Entwicklung der Region viel sinnvoller wären. Hasankeyf könnte dann am jetzigen Ort erblühen. 
Auf die Frage, was er denn selbst für Hasankeyf wünscht, wenn der Staudamm nicht gebaut würde, ging der Bürgermeister ausführlich ein. Er stellte ein auf Tourismus basierendes Entwicklungskonzept vor: In Sichtweite der jetzigen Ortschaft könnte eine neue Siedlung gebaut werden für die Bewohner des in den 70er Jahren von staatlicher Seite provisorisch auf archäologisch bedeutendem Terrain errichteten Stadtteils. Der historische Bestand  kann rekonstruiert werden. Er wurde damals durch den Bauunternehmer willkürlich zerstört, ferner können die noch im Boden zu vermutenden archäologischen Schätze gehoben werden. Hasankeyf zählt zu den Wiegen der Menschheit. Eine solche Entwicklung würde es zu einem touristisch bedeutenden Zentrum machen und sich in Kürze wirtschaftlich amortisieren. Die bisherige Vernachlässigung der Region wäre dadurch zum Teil ausgleichbar.
In entspannter Atmosphäre ging Herr Kusum auf weitere Fragen ein und empfahl allgemein, eine Planung nicht nur nach hohem europäischen Standard, sondern auch nach den nur langsam wachsenden Entwicklungmöglichkeiten der zur Zeit überwiegend sich selbst versorgenden Bevölkerung auszurichten.

Unsere Vorgehensweise trifft bei verschiedensten Gesprächspartnern anfangs auf Ablehnung. Wir begeben uns aus eigenem Auftrag in spannungsgeladenes Terrain und bearbeiten Themen, die als nicht lösbar erscheinen. Was passiert, wenn eine solche eigenständige Vorarbeit nicht stattgefunden hat, sahen wir während unserer Exkursion in der Überflutungszone des Birecik-Stausees am Euphrat.
Neuhalfeti nahmen wir vom Bus aus wahr. Wir fuhren in eine Nebenstraße, um das Stadtbild länger auf uns wirken zu lassen. Die Gebäude waren größtenteils von derselben Form und demselben Typus: EG Arbeitsmöglichkeit, OG Wohnungen und alle im gleichen Abstand zueinander angeordnet, so dass das Umsiedlungsprojekt eine abweisende Starre vermittelte. Mit einem Gefühl der Frustration fuhren wir weiter nach Halfeti. Der Birecik-Stausee hatte die tiefer gelegenen Straßenzüge und Obstgärten überflutet und den verbliebenen Quartieren eine spürbare Depression aufgeladen. Aus einer floriernden Brückenstadt wurde ein Ort am See, der den Besuchern ein bizarres Bild vermittelt. Das pulsierende Leben, von dem die alten Fotografien und Erzählungen im Ufer-Café zeugten, war nur mehr in Ansätzen zu erahnen. 
Der Bürgermeister Mahmut Özdemir übte abwartende Schweigsamkeit und ließ uns unsere Ansätze für die Wiederbelebung ausführlich erklären, die wir im gegenwärtigen Halfeti bereits erkennen konnten. Das deutlichste Merkmal des Ortes ist der Bestand an anonymen historischen Bauten mit verschiedenster Typologie. Sie strahlen jeder für sich ein beeindruckendes Selbstbewusstsein aus und tragen so zu dem unverwechselbaren Charakter des Ortes bei. Um diese Gebäude zu erhalten und zu nutzen, sind engagierte Bauherren, erfahrene Handwerker und Restauratoren nötig. Sie lebten früher hier, das bezeugen diese teils noch genutzten Gebäude. Die Chance, ein neues Arbeitsleben zu schaffen, das Ausbildungsplätze und höhere Bildungs Changen bietet, ist potenziell gegeben. Die dann restaurierten Gebäude könnten zum Teil  für Tourismus genutzt werden und die regionale Handelsinfrastruktur verstärken, die mit ökologischer Landwirtschaft ergänzt werden sollte. Auf diese Weise könnten die vorhandenen Qualitäten dauerhaft gesichert werden und nutzbar bleiben.

Eines der größten Problem stellt seit der Überflutung die Abwanderung der überwiegend jüngeren Bewohner dar. Die Abwanderung und Landflucht ist keine plötzliche Entscheidung einzelner und wird wie im Fall Halfeti oft von einer gravierenden Verschlechterung der allgemeinen Lebensbedingungen in einer Region ausgelöst.

Wenn am neuen Standort nachweislich bessere Entwicklungsmöglichkeiten zu erwarten sind, gibt es auch die Möglichkeit gewünschter und geplanter Gruppenumzüge der Entschlossenen in die nähere Umgebung des ursprünglichen Ortes. In der Provinz Malatya wurden wir in dem Dorf namens „Cumhuriyet Örnek Köyü“, übersetzbar als „Vorbilddorf der Republik“, erwartet. Die Ahnung bestätigte sich. Wir kamen in eines der wenigen realisierten „Köy-Kent-Projesi“ („Weiler-Zusammenlegugs-Projekte“) der 70er Jahre, das leider nicht viele weitere Beispiele nach sich gezogen hat. Die Bewohner einiger zerstreut liegender kleiner Orte am Berghang waren miteinander nachbarschaftlich verbunden und wünschten gemeinsam im Rahmen des „Köy-Kent-Projesi“ in einem neu zu errichtenden Dorf auf flacherem Gelände zu leben, von wo aus sie ihre Felder weiterhin bewirtschaften konnten. Hier entstanden neben modernen Dienstleistungen, wie Schulen, Handel, Gesundheitszentrum und Badehaus auch landwirtschaftliche Lager, Verarbeitungsgebäude und Anschluss an Elektrizität und Fernstraße. Kulturell und wirtschaftlich trug dieser Aufbruch zum gesellschaftlichen Erfolg der Menschen viel bei. Inzwischen gibt es in jeder Familie mehrere Hochschulabsolventen. Die Bildungsniveau liegt weit über dem Durchschnitt in den Städten. Dennoch ist das neu gegründete Dorf nicht verlassen. Im Gegenteil; es floriert und hat inzwischen internationale Handelsbeziehungen und erzeugt im ökologischen Anbau prämierte Trockenfrüchte für das Warensortiment wichtiger europäischer Anbieter.
Diese Begegnungen und Erfahrungen zeigen mir, dass die Modernität eines Ortes nicht von aufwendiger Technologie und irreversiblen Eingriffen in die Natur ermöglicht wird, sondern vor allem von einer begründbaren Aussicht, dass private Investitionen in absehbarer Zeit nicht zu Fehlinvestitionen werden können. Anders ausgedrückt: Durch vernünftige Raum- und Wirtschaftsordnung erzeugte Planungssicherheit setzt ein Höchstmaß an Kreativität frei. Eine durchdachte Vorgehensweise, die Entwicklungschancen offen hält und neue Ressourcen schafft, hilft jetzigen und kommenden Generationen ungeahnte Möglichkeiten zu erschließen.
Hasankeyf entwickelte sich bisher nicht. Die bereits Jahrzehnte andauernde Unsicherheit durch die immer wieder angekündigte Überflutung sowie das von der Denkmalbehörde erlassene generelle Verbot für Baugenehmigungen negieren die Zukunftsfähigkeit jeglicher Investition und entmutigen die Menschen, weiterhin dort zu bleiben.
Halfeti befindet sich in einem aufgezwungenen Trauma und bedarf sanfter Unterstützung. Die  Bewohner könnten dadurch für neue Wertschätzung ihrer Stadt gewonnen werden, um sie mit Eigeninitiative in Verbindung mit Neu-Halfeti erstehen zu lassen. Eine aussichtsreiche Vorgehensweise für einen Erfolg bedarf vor allem regelmäßiger Wiedergutmachungszahlungen seitens der Betreiber des Birecik-Staudamms.
In „Cumhuriyet örnek köyü“ führt das stetig wachsende Bildungsniveau auch zur Abwanderung, die meisten Akademiker aus den Bauernfamilien leben in den Städten oder im Ausland. Der relative Reichtum der im Dorf Gebliebenen leitet sich hier in erster Linie von der Entscheidung der Familienverbände ab, nicht gänzlich in die Städte abzuwandern. Die Familienangehörigen, die im Dorf als Landwirte tätig sind, und die, die in den Städten leben, unterstützen sich rege je nach den Möglichkeiten, die aus dem jeweiligen Lebensraum erwachsen.
An diesen drei Beispielen sehen wir unterschiedlichste Rahmenbedingungen, denen ein Ort ausgesetzt sein kann. Diese stehen im regionalen, nationalen und nicht selten im globalen Kontext. Eine grundlegende Veränderung der Bevölkerungsverteilung eines Landes führt oft zu einer drastischen Verzerrung der Siedlungsgebiete: von Geisterdörfern bis zu Megastädten.
Die Abwanderung der bäuerlichen Selbstversorger aus der ländlichen Umgebung sowie die fehlende infrastrukturelle Vorausplanung stehen in einem erweiterten Zusammenhang, der sich in anderer Form auch in zunehmend wachsenden Städten und Ballungszentren wie z.B. dem Großraum Istanbul ablesen lässt. Der vorherrschende Wachstumsdruck zeigt sich im Alltag durch kollabierenden Straßenverkehr, rationierte Energie- und Trinkwasserversorgung, ineffiziente Lebens- und Bauweisen, Schrumpfung ökologischer Flächen innerhalb und außerhalb der bebauten Gebiete usw. Diese Missstände sind verzahnt mit geringen Einkünften für Erwerbsabhängige, die diesen keinen erträglichen Lebenstandard ermöglichen. Die Befriedigung der Bedürfnisse, die das Leben in den Städten mit sich bringt, setzt eine ausgewogene Versorgung mit Gütern voraus. Die wirtschaftlichen und infrastrukturellen Möglichkeiten für die Beschaffung dieser Güter müssen vorausschauend und flexibel geplant werden. Denn die Unsicherheit der Menschen, dass sie unter den vorherrschenden Umständen  ihr Leben nicht aussichtsreich planen können, führt oft zu gesellschaftlichen Konflikten.
Die Zuflüsse der industriell-städtischen Komplexe benötigen Energie, Nahrung und Rohstoffe erfolgen gegenwärtig primär über Fernversorgung, mittels Verkehrsnetzen, Pipelines, Hochspannungsnetzen aus Großanlagen, Erzabbaugebieten und überwiegend agro-industrieller Produktion. Die Sicherstellung der notwendigen Ressourcen hängt von Einflüssen wie den vorherrschenden Wirtschaftsmechanismen, dem angewendeten technischen Standard sowie der politischen Motivation der Entscheidungsträger ab.
Um die Aneignung und Kontrolle der gigantischen Kraft- und Materialmengen wird heute politisch und wirtschaftlich überwiegend mit harten Strategien auf globaler Ebene gerungen. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein solcher Kampf niemals für einen Akteur entschieden werden kann, da er von natürlichen Prozessen beeinflusst wird, die sich dynamisch artikulieren können, ohne einem menschlichen Kalkül zu folgen.
Neben den bereits gennanten sozio-kulturellen Umwälzungen wie der Landflucht und Konflikten in den Städten tritt auch eine zunehmend einseitige Belastung des gesamten Ökosystems hervor. Inzwischen treten erdrückende Spuren auf, welche auf eine deutliche Veränderung übergeordneter Zusammenhänge hinweisen. Das zeigt sich weltweit unter anderem am Rückgang der Artenvielfalt sowie der Vegetationsdichte.
Auch wenn wir inzwischen die Einschätzung teilen mögen, dass das Leben auf der Erde viele Arten und unterschiedlichste Lebensräume hervorbringt und auf diese Weise als Gesamtheit gegen partielle Zerstörungen abgesichert ist, beobachten wir mit zunehmender Beunruhigung die vermehrt auftretenden Naturkatastrophen. Die jüngste, seit 200 Jahren und noch weiter andauernde Missachtung dieses Grundempfindens zeigt deutlich ihre Auswirkungen in Form des menschengemachten Treibhauseffekts.
Durch die Ausdünnung der Netze von Beziehungen, die die notwendige Dynamik der Selbststabilisierung ermöglichen, dauert die Wiederherstellung der Ökosysteme nach extremen Ereignissen immer länger.

Wäre der Verzicht auf weitere dominante Versorgungsstränge ausreichend, um die Beschleunigung des Treibhauseffekts einzudämmen? Wodurch lässt sich die Akzeptanz für dezentrale und durch jeweilige Standortautarkie dynamisch stabilisierbare Versorgungsnetze steigern? Ist eine kulturelle und sozio-politische Entwicklung absehbar, welche Lebensverbände, die auf Selbstversorgung basieren, zu potenziellen und gleichberechtigten Partnern der Städte macht?

Ein auf den Bedürfnissen und Kenntnissen der im Einflussgebiet des Tigris lebenden Menschen aufbauendes großes Investitionsvolumen kann die Vervielfältigung ihrer Lebensgrundlagen ermöglichen und zugleich die Stärkung der Biosphäre als fortwährendes Ziel umsetzen. Voraussetzung dafür wäre ein politischer Wille, der die Gleichrangigkeit aller Regionen und Siedlungsmaßstäbe als Ziel verfolgt. Ein Kreditgeschäft, das auf kurzzeitige Rückzahlungsforderung mit hohem Zinsanteil abzielt, kann ein solches großräumiges Vorhaben nur unzureichend umsetzen. Eine Chance für eine derartige Entwicklungsmöglichkeit ließe sich im Umwidmen der bereits erfolgten internationalen Kreditabsicherungen sehen, die für die Errichtung des Ilisu-Staudamms vorgesehen sind. Vorausgesetzt, der gemeinsame Wille zur erweiterten Betrachtung der Gegebenheiten und Ziele obsiegt.
Zukunftssichere Wirtschaftsbeziehungen in der Region werden erst dann ausgleichsfähig verankert, wenn die Finanzmittel in Verbindung mit detailliertem Prozesswissen einen großen Impuls freisetzen. Eine Entwicklung der Region, die auf die Potenzierung der Mensch-Natur-Kultur Beziehungen ausgerichtet ist, hätte alle Chancen, ein weltweiter Meilenstein zu werden. Ein Wirkungssymbol wie Hasankeyf – und viele andere Naturräume, Orte oder Denkmäler, die unter den Druck einer einseitigen Ausrichtung geraten sind und zunehmend zerstört werden, hätten die Chance, in einem neuen, größeren Zusammenhang ihre Authentizität, ihre Würde und ihre großzügigen Ressourcen zum Nutze des Gemeinwohls zur Verfügung zu stellen.

Die gegenwärtigen internationalen Abkommen zur Atmosphärenreinhaltung bieten bereits eine Grundlage für weiterführende Schritte, für die eine Rückkopplung im globalen Maßstab unumgänglich erscheint. Letztendlich würde ein Zusammenwirken der hier beschlossene, Ausgleichszahlungen die großen Summen bilden, welche den finanziell benachteiligten Regionen eine stabile Entwicklung in Aussicht stellen. Auf der Basis einer positiven Wirtschaftsentwicklung in den einzelnen Regionen kann dann durch gegenseitiges Vertrauen eine grenzenübergreifende Gleichberechtigung erarbeitet werden.

Was können Menschen innerhalb des ihnen vorgegebenen Rahmens in Bezug auf Hasankeyf dazu beitragen:
- damit sie sich würdige und vielfältige Existenzgrundlagen schaffen können, mit dem Ziel, das Wohlstandsgefälle zwischen West- und Osttürkei auszugleichen und somit der Landflucht und der problematischen Verstädterung entgegenzuwirken,
- damit sie die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU unterstützen können;
- damit die zunehmende Nachfrage nach Energie, Wasser, Nahrungsmitteln, Naturstoffen mit direkt erneuerbaren Methoden befriedigt werden kann;
- damit in der Region eine zukunftssichere Infrastruktur sowie vielfältige und ertragreiche Arbeitsmöglichkeiten entstehen und ausgebaut werden können;
- damit über einen engagierten Tourismus die gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Schätze neue Bedeutung finden und dadurch auch individuelle Kontakte zu Menschen und Gruppen aus allen Erdteilen aufgebaut und gepflegt werden können;
- damit Gesundheitsversorgung sowie eine moderne und unabhängige Bildung auch in die entlegensten Dörfer gelangen kann;
- damit die Artenvielfalt sich über gerodete Böden ausdehnt und die Kulturlandschaft der klimatischen Zone entsprechend zur raschen Stabilisierung der Biosphäre beitragen kann;
- damit eine ertragreiche biologische Landwirtschaft entstehen kann;
- damit sie für die regionalen Güter langfristige Handelsbeziehungen zu fairen Bedingungen aufbauen können;
- damit die Wasserfülle auf lange Sicht gesichert bleibt;
- damit in der Region eine Epoche der Gleichberechtigung und der Toleranz unter Volksgruppen, Religionen, Sprachen und verschiedenen Lebensanschauungen anbricht;
- damit sie einen deutlichen Beitrag zur Lösung der Hungerproblematik auf der Welt und zur Entspannung von Konflikten in Nahost leisten können;
- damit die Summe ihrer Massnahmen im globalen Kontext gesehen der Abschwächung des Treibhauseffektes dient?

Der weltpolitische Kontext, worin es gegenwärtig um Hasankeyf geht, erscheint wie die Vermengung zahlloser Zutaten aus Absichten und Ängsten in einem übervollen Topf, warmgehalten durch die eingerastete Haltung der Entscheidungsträger.
Die großen Potenziale und die vielen Möglichkeiten, die in Südostanatolien vorhanden sind, lassen sich durch die Investitionsbereitschaft der internationalen und nationalen Banken belegen.
Überdies ist die Tendenz abzulesen, dass überschaubare und kontrollierbare Investitionen in der Region zu einer Konfliktminderung führen können, worauf die Kreditgarantien seitens Deutschlands, Österreichs und der Schweiz hindeuten, und was im Hinblick auf die Integrierbarkeit von Türkei und EU von Interesse sein muss.
Zusätzlich spricht die Vorgehensweise des Konsortiums aus ausländischen und inländischen Konzernen und Industrieunternehmen für die aus der Region erwartete Effektivität und den Wunsch der Anleger nach Unterstützung strahlungsfreier und abgasarmer Energiequellen. Auf der anderen Seite sind alle bisherigen Absichten der genannten Parteien auf die Errichtung des Ilisu-Staudamms ausgerichtet, welcher der Energiegewinnung, der industriellen Landwirtschaft sowie dem internationalen Wasserhandel als möglicher politischer Machtfaktor dienen wird. Unter den jetzigen Umständen begünstigt dies primär die Fortsetzung der – bereits beschriebenen – problematischen Verstädterung. Es ist absehbar, dass bei der Realisierung und beim Betreiben des Ilisu-Staudamms in der Region unter den jetzigen Voraussetzungen eine Wirtschaftsschicht etabliert werden wird, die sich von den Lebensumständen der ländlichen Bevölkerung abkoppelt. Sie wäre somit nicht in der Lage, eine qualitative Besserung  der Umstände zu bewirken.

Die interdisziplinäre Beschäftigung mit dem Staudammprojekt zeigt ein Spektrum auf, worin sich Argumentationssysteme in Bezug auf die beschriebene Realität bewegen. Das Feld spannt sich zwischen den Polen der „stabilisierenden Dynamik der Ökologie“ und der „zunehmend desintegrierenden Starre“. Um eine Vorstellung von der Vorgehensweise zu ermöglichen, die sich aus diese Begriffsbildung ergibt, ist eine Orientierung an integrierenden und ausgleichenden Tendenzen empfehlenswert.

Die vorliegenden rechtsstaatlichen Gesetzestexte wie örtliche Satzungen, nationale Gesetze, EU-Gesetze sowie Handels-, Umwelt-, und Menschenrechtsabkommen und Abkommen zur Erhaltung von Kulturdenkmälern wurden durch Erfahrung und Ausgleich mit Konflikten, sowie Entwickelbarkeit der jeweiligen satzungsgebenden Körperschaft hin auf der Grundlage von Prämissen ausgerichtet. Es liegt in der Natur der Sache, dass bei allen Konfliktfällen, die sich nicht durch private Abkommen regeln lassen, gleichzeitig verschiedene Auslegungen der in die Verhandlungen einbezogenen Gesetzestexte möglich sind. Ein Prozess, der Spannungen auf den jeweiligen Ebenen ausgleicht und zu einem durchführbaren integrativen Ergebnis führt, kann den primären Erhaltungs- und Wirkungswillen unterschiedlicher Parteien im Sinne des Gemeinwohls zur produktiven Entfaltung bringen. Schließlich ist nichts Verwerfliches dabei, wenn Menschen sich annähern oder in örtlichem Zusammenhang wirken wollen. Es geht um die Potenziale, die eine solche Situation birgt, und ob sich dadurch eine Verantwortlichkeit ergibt, sie unter Berücksichtigung der Mittel und Zeitfaktors, freizusetzen.       

Die Konflikte und Nöte, die heute weltweit die Tagesordnung bestimmen, lassen sich nicht dadurch lösen, dass der betrachtete Umfang immerzu reduziert wird, bis kein Sachverhalt mehr formuliert werden kann. Diese Zielrichtung des geringsten Übels verursacht die Zersetzung der Komplexität, wodurch ihre Bestandteile nach und nach aus dem Blickfeld verdrängt werden. Das führt zu keiner befriedigenden Lösung, sondern hebt nur das Fragezeichen in der Formulierung des Problems auf und dient damit der Durchsetzung einseitiger Ansprüche. Ein anderer Weg, der bereits in konsensorientierten Prozessen angewendet wird, fordert  alle Parteien heraus, ihre spezifischen Standpunkte zu formulieren und gewünschte Entwicklungsrichtungen zu nennen. Der Umfang der Beteiligung wird dann nach Bedarf und Einverständnis aller bereits Mitwirkenden schrittweise um neue Kategorien und/oder räumliche Zusammenhänge erweitert. Bei jedem erforderlichen Ausdehnungsschritt des Betrachtungsrahmens werden die vorherrschenden Kräfte zwischen Betroffenen und Agierenden erneut abgewogen und unter Einbeziehung der Auswirkungen auch auf die neu hinzugetretenen Akteure positioniert. Ob nun bereits ein würdiger Rahmen erreicht ist, der dem Kräfteverhältnis entspricht, zeigt sich daran, ob er den destruktivsten Spannungen zwischen „Verursachern“ und  „Leidtragenden“ standhalten kann. Das Ziel ist, einen Riss zu vermeiden, bis eine erfahrbare Dynamik einsetzt,die zur integrativen Stabilität führt worin der ursächliche Konflikt objektiviert werden kann. Das hierbei erworbene Wissen über die Zusammenhänge sowie neue Kontakte, die sich im Verlauf des Prozesses gebildet haben, ermöglichen es allen Beteiligten – auch ohne Detailwissen –, den erzielten Konsens in seiner Realisierung und Anwendung zu begleiten. Die in dem gesamten Verlauf aktivierten Kräfte fließen als festigende Formkräfte in einen gewaltfreien und integrativen Prozess und können dadurch auf kürzestem Weg dem Wohl aller dienen.
Der integrative Prozess setzt voraus, dass bei jeder folgenden Fragestellung das erreichte Zwischenergebnis von allen Beteiligten konsensual als Standpunkt für den folgenden Schritt erachtet wird.

Diese Beschreibung ist ein Handlungskonzept für wissensintensivierende Lösungsfindung. Im Vergleich zur Anwendung normativer Methoden bedarf sie mehr Zeit. Die veranschlagte Zeitspanne wird für die Mehrung von Erkenntnissen durch Experimente, Annäherung und Verständnis der Beteiligten für die jeweiligen Bedürfnisse verwendet. Daraus erwächst die Grundlage der Verantwortung für das gemeinsam Erarbeitete und die Identifikation mit dessen Entstehungsprozess.

In Bezug auf Hasankeyf kann abschließend als unumgänglich angesehen werden, dass die bereits getätigten Schritte für die Staudamm-Planung vor dem Baubeginn noch keine Überflutung verursachen. Angesichts der zu erwartenden verheerenden allgemeinen Nachteile die bereits erwähnt sind, dürfen wir nicht den Kopf in den Sand stecken und zusehen wie immense Summen unter einseitigen Gesetzes-Interpretationen zu unumkehrbaren Versäumnissen führen werden.
Diese Summe als direkte, sinnvollen Investition in Form breit gestreuter ökologischer Aufbau- Kredite in der Region würden neben dem Erhalt einmaliger historischer Reichtümer auch Frieden, Wohlstand, Bildung und nicht zu letzt die Garantie für reichlich sauberes Trinkwasser und Entlastung des Ökosystems mit sich bringen.

Juli 2007

die ufer der zukunft

Die Ufer der Zukunft

Ibrahim Kaya

Du sagst, du kommst von einer schönen Reise zurück, die dich sehr strapaziert hat und wüßtest nicht, ob du heimgekehrt bist oder in die Fremde.
Alles begann mit eine Stellenanzeige in einem renommierten Zeitung. Du hattest dich daraufhin als Bauingenieur bei dem Unternehmen beworben, dessen Sparte eigentlich nicht im Baubereich lag. Den Kleinkram, der bisher für dich abfiel, hattest du satt. Oft stritten deine Auftraggeber, nachdem du die Pläne beendet und bereits bei den Behörden eingereicht hattest, noch um das vorher ausgehandelte Honorar.
Die Realisierung der Entwürfe war auch nicht zufriedenstellend. Es kam jeden Tag ein anderer Handwerker vorbei und versuchte ohne Anleitung die Zeichnungen umzusetzen, denn das Bauleiterhonorar für dich war meist gänzlich gestrichen. Man erwartete, dass du die Baustellen ohne Bezahlung zu Ende führtest. Bald würde damit Schluss sein, hofftest du.

Das Vorstellungsgespräch fand in dem Firmensitz, einem 30 Stöckigen Hochhaus mit einer Fassade aus makellosem Glas statt. Die Fugen zwischen den rahmenlosen Scheiben waren exakt, wie in einer virtuellen Zeichnung. Hier zu arbeiten hieß wohl, an der Zukunft zu arbeiten, dachtest du und gingst eilig auf den Eingang zu, der von einem frei schwebenden, filigranen Vordach markiert wurde. Viele Gedanken darüber, wie sich deine Zukunft ändern würde, flirten dir durch den Kopf. Endlich ausziehen aus dem schäbigen Viertel, dem verfallenden Elternhaus. Hier in der Nähe waren schicke Neubauten an einem künstlichen See entstanden. Vielleicht würde sich ein Projekt im Ausland ergeben. Den betörenden Geruch der fernen Orte vernahmst du schon. Du betratest das Geschäftsgebäude, legtest der Information deine Einladung vor und stiegst mit dem Lift in das 27. Stockwerk. In dem angegebenen Bereich wurdest du von einer attraktiven Jungen Frau mit einem butterweichen Deutsch gebeten, noch kurz zu warten. Ein Herr um die 50 wies dich dann in einen Raum, der keine Grenzen zu haben schien. Die Wände waren gänzlich aus Glas.
Dein Blick glitt über die Dächer der Stadt zu der weit ausgedehnten Hügelkette und dem Wald hinweg. Das hier war die Welt von oben, dachtest du. Der Mann in dem metallischen, faltenlosen Anzug bemusterte mit einem vieldeutigen Lächeln deine Unterlagen und hatte wohl bereits seinen Entschluss gefasst. Die Vorstellung verlief so gut wie ein Einstellungsgespräch. Es hieß, du würdest in den nächsten Tagen darüber benachrichtigt werden, wann du anfangen könntest.
Du hattest zwei Wochen gewartet aber es ergab sich nichts, kein Anruf, kein Brief. Auf dein Nachfragen hin mußtest du erfahren, dass gewisse personelle Unstimmigkeiten deine Einstellung etwas verzögerten. Unerklärlich, dachtest du, denn du hattest dir bisher nichts zuschulden kommen lassen. Du fingst an zu recherchieren. Das Unternehmen arbeitete als PR-Agentur für ein Konsortium, das weltweit aktiv war und auch in der Türkei plante. Im Südosten des Landes sollte ein gigantischer Stausee entstehen. Eigentlich müsste es für sie von Vorteil sein, dich einzustellen, da du Türkisch als Muttersprache hattest. Aber etwas an deiner Biografie schien sich als konfliktbehaftet herauszustellen. Du stießt auf eine Meldung, dass mehr als eintausendfünfhundert Bewohner aus den Dörfern, die von der Überflutung betroffen sein würden, bereits ein Sammelasylantrag an die deutschen Behörden gestellt hatten. Du dachtest über die Schwierigkeiten des Einlebens derer in Deutschland nach, das würde kein Zuckerschlecken für sie sein, wenn ihre Anträge überhaupt angenommen und die Aktion nicht als eine Farce abgetan würde. Die Nachricht über das Schiksal der Menschen brachte dich nicht davon ab, weiter auf eine Nachricht des PR-Unternehmens zu warten.
Es verging eine weitere Woche, es geschah nichts. Die Vorstellung reizte dich schon, international zu arbeiten. Es war dir nicht egal, ob du am Ende noch abgelehnt werden würdest. Du mußtest herausfinden, was da war. Man hörte von den Medien in der letzten Zeit nichts Schlimmes aus der Region um den geplanten Staudamm, auch das Auswärtige Amt hatte keine Gefahrenwarnung notiert, deshalb hattest du kurzfristig beschlossen, dorthin zu reisen. Deinen Eltern sagtest du, das du an die Küste möchtest, damit sie sich keine Sorgen machen.
Das war deine erste Reise in Süd-Ost-Anatolien. Erst Ankara, dann Diyarbakır und dann mit dem Bus weiter, immer tiefer in Mesepotamien hinein. Die Flughäfen waren die Tore, die die Länder miteinander verbanden, dann die Großen Städte. Die Ortschaften und Industrieparks, die wie zerflederte Fetzen der Zivilisation zwischen den Städten entlang der Verbindungsstrassen entstanden waren. Die Modernisierung, die sich durch Autobahnen, Fabriken und Bewässerungskanäle zeigte, war bereits bestimmend. Energieversorgung und landwirtschaftliche Produktion hatten unweigerlich Vorrang vor veralteten Lebensformen.
Das stimmte, solange man die Geschehnisse von Außen betrachtete. Du tatest gut daran, dich als freier Journalist auszugeben und nicht als Bauingenieur, der an dem Staudammbau mitarbeiten wollte, denn du hättest Missmut wecken können. Mit der Offenheit der Bitternis erzählten die Menschen dir ihre Geschichten und hofften, dass du sie veröffentlichst. Die meisten bangten um Hasankeyf. Hasankeyf, ein Ort, verspielt und geheimnisvoll. Umspült vom Tigris, von Hügeln hinter Hügeln umrahmt. In Schluchten übereinander liegende Bauten und Ruinen vergangener Kulturen, märchenhaft modelliert. Die Hoffnungslosigkeit, die die Menschen aussprachen, wurde durch den Zustand der bewohnten Gebäude deutlich. Die Gastlichkeit war informell und nicht huldigend, wie du es vielleicht erwartet hättest. Sie hatten viele Gäste gehabt, die sich für Hasankeyf und ihre Situation interessierten und das Beste für sie wünschten. Diese öffentliche Interessens- und Solidaritätsbekundung der Menschen von überall her hatte sie bescheiden werden lassen. Ihre Ängste basierten auf der Tatsache, dass die mehrfach beschlossene und dann wieder aufgeschobene Errichtung des Ilisu-Staudamms nun wahr werden sollte. Der dabei entstehende Stausee würde ihre Stadt samt 190 weiteren Orte verschlingen. Diese Tragödie, wußtest du nun, war auf der Ebene der global diskutierten Themen und Zusammenhänge angekommen, denn sie erwies sich als ein Akt des Ringens zwischen technologischen Großprojekten und ökologischer Nachhaltigkeit. Vor diesem Hintergrund bestanden die Menschen aus dem Tigristal darauf, wenn auch nicht laut, dass der „Bann“, der ihnen und ihrer Stadt im Namen einer „neuen Zukunft“ auferlegt wurde, wieder abgenommen werden mußte. Sie sahen es als ihre Aufgabe an, ein würdiges Leben in Hasankeyf auch in der Zukunft zu ermöglichen. Viele, auch hochrangige BesucherInnen bewiesen durch ihr Kommen, dass Hasankeyf weltweit noch viele Freunde brauchte.
Du hadertest mit dir während dem Erkundungsgang auf dem Burgberg. Sollte dein Studium umsonst gewesen sein? Der technische Fortschritt war doch der Garant für eine Zukunft ohne Not und Rückständigkeit. Viele Tagesausflügler spazierten auf den von sattgrünen Denkmälern übersäten Hügeln. Du bist zu einer Gruppe von Studentinnen und Studenten aus München gestoßen. In demütiger Ergriffenheit darüber, dass sie eine der letzten Exkursionsgruppen sein würden, die Hasankeyf in dieser zehntausende Jahre alten Grandiosität erleben durften, fertigten sie Architekturskizzen an, bemaßen, sammelten Proben von historischen Baumaterial und fotografierten die Höhlen und Ruinen. Sie waren zurückhaltend, als du auf sie zugingst, denn bereits ein paar mal wurden sie beschuldigt, Beauftragte des Konsorziums zu sein, das aus deutschen, österreichischen und schweizer Konzernen bestand und im Auftrag der türkischen Regierung handelte und den Ilisu-Staudamm bauen und betreiben wollte. Die StudentInnen erklärten dir ihre Motivation, die zur Organisation dieser Exkursion geführt hatte. Du botest an, dich ihnen anzuschließen, um sie sprachlich zu unterstützen.
Der Bürgermeister von Hasankeyf und weitere Stadträte schenkten eurer Gruppe Zeit und Freundlichkeit. Am folgenden Abend, im Nebenraum des Teehauses im Rathaus, zerrte die Konzentration aller Beteiligten wie ein ungeduldiges Kind am Mantel der Aussichtslosigkeit. Die Gastgeber reagierten auf die mitgebrachten Entwürfe der Arbeitsgruppe mit Ablehnung. Die StudentInnen, die ihre Arbeiten präsentierten, mussten auf den Verlauf des zukünftigen Ufers hinweisen, die der neue Stausee bilden würde, und von dem sie in einigen städtebaulichen Entwürfen als dem ungünstigsten Fall ausgegangen waren. Der Bürgermeister sagte direkt: Er möchte keine Zeichnung ansehen müssen, die Hasankeyf in versunkenem Zustand darstellt. Daraufhin bekräftigten sie, dass die vorliegenden Entwürfe keine von ihnen erwünschte Situation als Zielvorstellung hätten und sie auch von niemandem beauftragt sind, ihm Pläne vorzulegen. Es ginge nicht darum, den Staudammbau zu beschönigen. Ihre Absicht sei es, Vorschläge zu entwickeln, mit denen sie die angekündigte Verdrängung von über fünfundsechzigtausend Menschen aus Hasankeyf und den anderen Orten im Tigristal in der ganzen Tragweite verdeutlichen konnten. Mit städtebaulichen und architektonischen Methoden wollten sie die großen Umsiedlungsvorgänge erfassen und prüfen, ob so etwas überhaupt human vonstatten gehen konnte. Auf diese Weise konnten Argumente gewonnen werden, die die Investoren und Befürworter großer Staudammprojekte überall auf der Welt anmahnten, einen angemessenen Verlustausgleich für die betroffene Bevölkerung bereitzustellen. Der Bürgermeister bemerkte verbittert, weshalb junge Menschen überhaupt Städte planen und nicht Staudämme, damit sei doch mehr Geld zu machen. Das traf dich wie ein Blitzschlag. Dir wurde es deutlich, dass die Entschädigungsleistungen von offizieller Seite nicht im angekündigten Maße gezahlt und die Menschen ihrem Schicksal überlassen werden würden.
Der die Exkursion leitende Professor wollte wissen, ob nicht Pläne vorlagen für den Fall, dass der Staudamm nicht gebaut würde und der Tigris in seinem natürlichen Flussbett bleiben konnte. Der Bürgermeister erläuterte ausführlich, was er bei einer solch glücklichen Entwicklung selbst für Hasankeyf wünschen würde. Er stellte ein auf Tourismus basierendes Konzept vor: In Sichtweite der jetzigen Ortschaft könnte eine neue Siedlung gebaut werden, wohin die Bewohner des Stadtteils umziehen würden und das in den 70er Jahren von staatlicher Seite provisorisch auf archäologisch bedeutendem Terrain errichtet worden war. Der historische Bestand  könnte dann rekonstruiert werden. Er wurde damals durch den Bauunternehmer willkürlich zerstört, ferner könnten die noch im Boden vermuteten archäologischen Schätze gehoben werden. Hasankeyf zählte zu den Wiegen der Menschheit. Eine solche Entwicklung würde es zu einem touristisch bedeutenden Zentrum machen und sich in Kürze wirtschaftlich amortisieren. Die bisherige Vernachlässigung der Region wäre dadurch zum Teil ausgeglichen. Ein sanfter Tourismus wäre natürlich nur ein Punkt auf der Palette der Möglichkeiten, auch der Ausbau der Versorgung mit regenerativen Energiequellen, sowie eine vielschichtige ökologische Landwirtschaft nach neuesten Erkenntnissen und zukunftsfähige Industrieanlagen würden sich als neue und dauerhafte Gewinnquellen anbieten. Hasankeyf könnte dann am jetzigen Ort erblühen.
Die Gruppe setzte am folgenden Tag ihre Exkursion in Mesopotamien in Richtung Ilisu fort, dem Dorf, über dem die Talsperre errichtet werden sollte. Du hattest erfahren, dass in der Gegend häufig Militärkontrollen stattfanden, und wolltest nicht, dass deine Personalien in diesem Zusammenhang registriert werden und deswegen später deine eventuelle Einstellung gefährdet würde. Die Medien berichteten über die Stadt Dargeçit, den Gegenpart zu Hasankeyf. Viele würden sich dort freuen, dass in ihrer Nähe der Staudamm gebaut wird, da sie davon wirtschaftlich profitieren könnten. Alleine auf der Baustelle würden über siebentausend Menschen arbeiten, hieß es. Die Situation war sehr kompliziert. So viele Menschen, wie die, die im Tigristal um ihr Land und ihre Häuser bangten, so viele waren auch einhundert Kilometer entfernt auf der anderen Seite und erhofften sich davon den ersehnten Aufschwung.
Du bliebst in Hasankeyf, unentschlossen, ohnmächtig. Der Tigris floss nichts Gutes verheißend trübe um den Kalkfelsen, in den Treppen eingeschlagen waren, die früher zur Wasserversorgung gedient hatten. Auf einer Terrasse am Steilufer stehend schautest Du wie ein Gefangener einer unheilvollen Entwicklung den leisen Riesen an; so floss er schon Jahrtausende dahin, dachtest du, aber es schien sein Ende bevorzustehen. Über lange Zeit hinweg hatte sich in dir ein mysteriöser Nebel festgesetzt, der das Bild Südost- und Ostanatoliens verdeckte. Nicht primär als Landschaft, Lebens- und Kulturraum galt es dir bisher, sondern auch als aktueller Problemherd und Zankapfel zwischen den verschiedensten Mächten und Ansprüchen. Bis du physisch dich mittendrin befandest. Du sahst unterschiedlichste grandiose Landschaften, die du bis dahin nicht kanntest, und einen echten Ausdruck der Ausweglosigkeit der Menschen im Tigristal angesichts der technischen Machbarkeit übermächtiger Planungen. Gleichzeitig begann in dir ein Prozess des Hinterfragens. Deine bisherige Vorstellung, dass die Welt zentralistisch strukturiert sei, löste sich in Hasankeyf unwiederbringlich auf. Die Städte, glaubtest du bis dahin, seien im Vergleich zu kleineren Siedlungen wichtiger, und die Großstädte wiederum wichtiger als Mittelstädte, dann die Spitze der Pyramide, die Megastädte in unfassbarer Größe und Komplexität, alles beherrschend. Diese Empfindung war nicht allein dir zu eigen. Viele Menschen nahmen Weite Wege, Strapazen und Gefahren auf sich und reisten an bedrohte Orte, weil sie auch derselben Überzeugung waren. Bisher erschien ihre Wirkung wie die eines Tropfens auf einen heißen Stein.
Eine Gruppe in einem Schlauchboot kam den Fluss abwärts, sie steuerten an den Pfeilern der historischen Brückenruine vorbei auf das Ufer zu. Bis die mit Schwimmwesten abgesicherten Ruderer an Land kamen, warst du auch bei ihnen. Sie stellten sich vor und fragten nach Übernachtungsmöglichkeiten. Es war leider nicht viel geboten, musstest du gestehen, da durch die vielen Gäste - Archäologen, Journalisten und Filmteams - die wenigen Gästebetten bereits belegt waren. Du wolltest wissen, was sie nach Hasankeyf führte. Sie waren Umweltaktivisten aus verschiedenen Ländern und dokumentierten auf ihrer Reise die gänzlich und teils überfluteten Städte und Orte, sowie die Auswirkungen von Staudammprojekten auf die Ökologie. Sie berichteten, dass ihre Vorgehensweise anfangs auf Unverständnis gestoßen war, da sie sich in eigenem Auftrag in spannungsgeladenes Terrain begeben hatten und Themen bearbeiteten, die unbequem waren. Bevor sie den Tigris, der größtenteils noch unbebaut war, von der Quelle bis nach Hasankeyf hinab gerudert waren, um ein Bild von der ökologischen Vielfalt des Tals zu gewinnen, hatten sie ihre Nachforschungen an die Überflutungszone des Birecik-Stausee am Euphrat geführt, der zu den bereits errichteten Staudammprojekten des Südostanatolienprojekts GAP gehörte. Die tiefer gelegenen Straßenzüge und Obstgärten der Stadt Halfeti waren unter den Wassermassen begraben und die verbliebenen Quartiere mit einer spürbaren Depression beladen. Aus einer florierenden Brückenstadt war so ein Ort am See geworden, der ihnen ein bizarres Bild vermittelt hatte. Das pulsierende Leben, von dem die alten Fotografien und Erzählungen im Ufer-Café gezeugt hatten, war nunmehr nur noch in Ansätzen zu erahnen, bedauerten sie. 
Die Frage der Abwanderung beschäftigte dich zunehmend, ob sie nun freiwillig oder aber aus Aussichtslosigkeit heraus geschah. Du wolltest den Zustand der Ersatzsiedlungen in Augenschein nehmen und fuhrst selbst nach Halfeti, um dir ein Bild von der Situation dort zu machen. Neuhalfeti, die Ersatzstadt, die ca. 7km außerhalb auf eine kargen Hochebene lag, nahmst du vom Bus aus wahr. Du batest den Fahrer, in eine Nebenstraße zu fahren, damit du das Stadtbild länger auf dich wirken lassen konntest. Die Gebäude waren größtenteils von derselben Form und demselben Typus: Erdgeschoss Arbeitsmöglichkeit, Obergeschoss Wohnungen und alle im gleichen Abstand zueinander angeordnet, so dass das Umsiedlungsprojekt eine abweisende Starre vermittelte. In Alt-Halfeti gingst du an die neu entstandene Uferpromenade und versuchtest die Totenstille zu begreifen, in der die Stadt eingetaucht war. Du sprachst mehrere noch dort lebende Menschen an. Der Pächter des Ufercafés versprach, dir ein Gespräch mit dem Bürgermeister zu vermitteln. Du trafst ihn dort am Abend. Er übte abwartende Schweigsamkeit in Hinsicht auf deine Ansätze, die du für eine mögliche Wiederbelebung im gegenwärtigen Halfeti bereits erkennen konntest. Das deutlichste Merkmal des Ortes war der Bestand an historischen Profanbauten mit unterschiedlicher architektonischer Typologie. Sie strahlten jeder für sich ein beeindruckendes Selbstbewusstsein aus und trugen so zu dem unverwechselbaren Charakter des Ortes bei. Um diese Gebäude zu erhalten und zu nutzen, waren engagierte Bauherren, erfahrene Handwerker und Restauratoren nötig. Sie hatten früher hier gelebt, das bezeugten diese teils noch genutzten, grandiosen Gebäude. Die Chance für ein neues pulsierendes Leben, das Ausbildungsplätze und höhere Bildung bieten konnte, war potentiell gegeben. Die dann restaurierten Gebäude hätten zum Teil für Tourismus genutzt und die regionale Handelsinfrastruktur verstärken können, die mit ökologischer Landwirtschaft ergänzt werden sollte. Auf diese Weise hätten die vorhandenen Qualitäten dauerhaft gesichert werden können und wären nutzbar geblieben. Der Bürgermeister und weitere hinzugekommene Interessierte am Tisch verlangten Hilfe aus dem Ausland oder von der EU, um ihre Rest-Altstadt vor dem endgültigen Verfall bewahren zu können. Du schworst dich darauf ein, nach deiner Rückkehr nach Deutschland verschiedene Stellen zu kontaktieren, um finanzielle Hilfe zu beantragen und die Situation von Hasankeyf sowie Halfeti zu verdeutlichen, schließlich waren die Europäischen Konzerne und Banken unter den Profiteuren dieser Misere. Außerdem wäre die Restaurierung einer so schönen alten Stadt eine ehrbare Aufgabe für jeden Architekten und Bauingenieur.
Auf der weiteren Fahrt sprachst du mit vielen Reisenden. In einer Überlandraststation, die hätte überall in der Türkei sein können, erzählten Passagiere ihre Gründe für ihre langen Fahrten quer durch das Land. Teils waren sie nach der Überflutung ihrer Dörfer durch Stauseen in die Großstädte abgewandert, um dort von Neuem zu beginnen. Die Jahrzehnte andauernden militärischen Auseinandersetzungen hatten dazu auch stark beigetragen. Du dachtest an deine Kindheit, wie du mit deiner Familie nach Deutschland gekommen warst; die Abwanderung und Landflucht war keine plötzliche Entscheidung Einzelner und wurde oft von einer gravierenden Verschlechterung der allgemeinen Lebensbedingungen in einer Region ausgelöst. Vereinzelt hörtest du aber Berichte von erfolgreicher Umsiedlungen. Wenn am neuen Standort nachweislich bessere Entwicklungschancen zu erwarten waren, gab es auch die gewünschten und geplanten Gruppenumzüge der Entschlossenen in die nähere Umgebung des ursprünglichen Ortes. Durch gezieltes Nachfragen wurdest auf das Dorf namens „Cumhuriyet Örnek Köyü“, übersetzbar als „Vorbilddorf der Republik“ in der Provinz Malatya aufmerksam.
Ein gönnerischer Mitreisender, der dort Bekannte hatte, kündigte dich dort an. Die Ahnung bestätigte sich. Es war eines der wenigen realisierten „Köy-Kent-Projesi“, zu deutsch „Weiler-Zusammenlegugs-Projekt“ der 70er Jahre, das leider nicht viele weitere Beispiele nach sich gezogen hatte. Deine Gastgeber erzählten von früher; Die jetzige Dorfgemeinschaft lebte damals in einigen zerstreut liegenden, kleinen Weilern am Berghang und sie waren miteinander nachbarschaftlich verbunden. Die meisten Bewohner wünschten gemeinsam auf flacherem Gelände ein neues Dorf zu errichten, von wo aus sie ihre Felder nun ohne Mühe bewirtschaften konnten. Hier entstanden neben modernen Dienstleistungen, wie Schulen, Handel, Gesundheitszentrum und Badehaus auch landwirtschaftliche Lager, Verarbeitungsgebäude und es gab Anschluss an Elektrizität und Fernstraßen. Kulturell und wirtschaftlich trug dieser Aufbruch zum gesellschaftlichen Erfolg viel bei. Inzwischen gab es in jeder Familie mehrere Hochschulabsolventen. Das Bildungsniveau lag weit über dem des Durchschnitts in den Städten. Dennoch war das neu gegründete Dorf nicht verlassen. Im Gegenteil; es florierte, hatte bereits internationale Handelsbeziehungen und erzeugte im ökologischen Anbau prämierte Trockenfrüchte für das Warensortiment in Europa.
Du verglichst Hasankeyf, Halfeti und Cumhuriyet Örnek Köyü miteinander und wurdest dir darüber bewusst, dass die Modernität eines Ortes nicht durch aufwendige Technologien und irreversible Eingriffe in die Natur ermöglicht wurde. Die begründbare Aussicht, dass private Investitionen in absehbarer Zeit nicht zu Fehlinvestitionen werden würden, war das Erfolgsgeheimnis.
Du fuhrst weiter nach Ankara, dort nahmst du an eine Demonstration gegen Armut und Umweltzerstörung teil, bei der auch die Situation von Hasankeyf thematisiert wurde. Am Rande der Demonstration hattest du eine Gruppe von Redakteuren kennengelernt, die aus Istanbul angereist war. Sie gaben eine Zeitschrift heraus, die sich mit der problematischen Verstädterung befasste. Du hattest von der Arbeit der Studentengruppe aus München erzählt, sie interessierten sich sehr für die vorausschauenden Entwürfe und baten um Kontakt zu ihnen. Die ambivalente Frage der Landflucht schon vorher aufzugreifen und Lösungen für den Fall anzubieten, dass der Staudamm unvermeidlich werden würde, konnte sicherstellen, dass die Bevölkerung nicht völlig alleine gelassen wird, wenn die Proteste wieder versiegen.
Die gegenwärtige Entwicklung musste aus der Position der Betroffenen gesehen werden, verlangten die Redakteure in ihrem Manifest. Das forderte, dass die unterschiedlichsten Rahmenbedingungen, denen ein Ort ausgesetzt war, in regionale, nationale und in globale Kontexte gestellt werden mussten, denn eine grundlegende Veränderung der Bevölkerungsverteilung eines Landes führte oft zu einer drastischen Verzerrung der Siedlungsgebiete: von Geisterdörfern zu Megastädten. Du nahmst mit der Gruppe an einer Begehung quer durch Ankara teil, die beobachteten Tatsachen erklärten diese Veränderungen eingehend: Die Abwanderung der bäuerlichen Selbstversorger aus der ländlichen Umgebung, sowie die fehlende infrastrukturelle Vorausplanung standen in einem erweiterten Zusammenhang, der sich in anderer Form auch in chaotisch wachsenden Städten und Ballungszentren ablesen lies. Der vorherrschende Wachstumsdruck zeigte sich im Alltag durch kollabierenden Straßenverkehr, rationierte Energie- und Trinkwasserversorgung, ungesunde Lebens- und Bauweisen, Schrumpfung ökologischer Flächen innerhalb und außerhalb der bebauten Gebiete usw. Diese Missstände waren verzahnt mit zu geringen Einkünften für einen großen Teil der Bevölkerung, der keinen erträglichen Lebensstandard hatte. Die Befriedigung der Bedürfnisse, die das Leben in den Städten mit sich brachte, setzte eine ausgewogene Versorgung mit Gütern voraus. Die wirtschaftlichen und infrastrukturellen Möglichkeiten für die Beschaffung dieser Güter mussten vorausschauend geplant werden. Die Unsicherheit der Menschen darüber, ob sie unter den vorherrschenden Umständen ihr Leben aussichtsreich führen konnten, führte oft zu gesellschaftlichen Konflikten.
Auf der Fahrt nach Istanbul, je näher du dem Megapolis kamst, ließen sich weitere Zusammenhänge deutlich ablesen. Die Versorgung mit der in industriell-städtischen Komplexen benötigten Energie, Nahrung und Rohstoffe erfolgte gegenwärtig primär über Fernversorgung mittels Verkehrsnetzen, Pipelines, Hochspannungsnetzen aus Großanlagen, Erzabbaugebieten und überwiegend industriell-landwirtschaftlicher Produktion. Die Sicherstellung der notwendigen Ressourcen hing von Einflüssen wie den vorherrschenden Wirtschaftsmechanismen, dem angewendeten technischen Standards sowie der politischen Motivation der Entscheidungsträger ab.
Um die Aneignung und Kontrolle der gigantischen Kraft- und Materialmengen wurde politisch und wirtschaftlich überwiegend mit harten Strategien auf globaler Ebene gerungen. Es lag in der Natur der Sache, dass ein solcher Kampf niemals für einen Akteur entschieden werden konnte, da er von natürlichen Prozessen beeinflusst wurde, die sich dynamisch artikulierten, ohne einem menschlichen Kalkül zu folgen.
Die Errichtung des Ilisu-Staudamms würde nicht nur durch die Abwanderung der Menschen in die Städte die problematische Verstädterung beschleunigen sondern auch durch die punktuelle Energieversorgung anstelle dezentraler Systeme und Optimierung der Netze. Wäre der Verzicht auf weitere dominante Versorgungsstränge ausreichend, um die Beschleunigung des menschengemachten Treibhauseffekts einzudämmen? Wodurch lässt sich die Akzeptanz für dezentrale und durch jeweilige Standortautarkie dynamisch stabilisierte Versorgungsnetze steigern? Ist eine kulturelle und soziopolitische Entwicklung absehbar, welche Lebensverbände, die auf Selbstversorgung basieren, zu potentiellen und gleichberechtigten Partnern der Städte macht?
Du gingst ziellos durch eine Fußgängerzone von Istanbul, Geschäfte, Buchhandlungen, Cafés und Galerien standen da wie immer; einladend und auffordernd, am Leben teilzunehmen. Eine kosmopolitische Stadt mit Menschen aus allen Regionen des Landes und von überall aus der Welt. Du dachtest an die Menschen vom Tigristal, dass bald, wenn der Staudamm nicht verhindert werden würde, etliche auch nach Istanbul kommen würden und sich hier unter schweren Bedingungen über Wasser halten müssten. Da war ihnen ihr Wunsch, nach Europa weiterzuziehen, nicht zu verübeln, da sie sich dort ein besseres Auskommen erhoffen konnten.
An einer Straßenecke kam ein kleines Mädchen mit verschmutzter Kleidung und zerzausten Haaren auf dich zu. Du versuchtest ihr auszuweichen, sie rannte aber vor dich hin, hielt dir mit ausgestrecktem Arm ein Päckchen Taschentücher entgegen und bat dich, es zu kaufen. Du wußtest, dass Straßenkinder sehr nervig sein können und suchtest nach Kleingeld. Eine 20ct. Münze versuchtest du ihr zu geben, sie sah das Geld an und schüttelte den Kopf, dann hast du angedeutet, dass du die Päckchen nicht haben willst, darauf wurde sie quengelig und fing an, laut zu weinen. Es begann, Aufsehen zu erregen. Du suchtest nach weiterem Kleingeld in deinen Taschen. Das Weinen des Kindes wurde immer störender. Du wolltest weitergehen, aber vor dir stand plötzlich ein etwa 15 jähriger Junge, der ihr großer Bruder zu sein schien und dich mit finsterem Blick fixierte. Du fandest doch noch eine Ein-Euro-Münze und gabst es dem Mädchen. Das Kind freute sich und rannte dankend fort. Du hattest nun ein Päckchen Taschentücher. Dieses Erlebnis hatte dich etwas wütend gemacht. Dass die Armut auch zu radikalen Formen des Gelderwerbs trieb, verdeutlichte dir eine Intelligenz, die aus Not geboren wurde. Es war immer von Vorteil, einen großen Bruder im Hintergrund zu haben, der half, die eigenen Forderungen durchzusetzen.
Tigris brauchte einen großen Bruder, Hasankeyf, Halfeti, all die vernachlässigten und bedrängten Orte brauchten einen großen Bruder. Es wäre nicht genug damit, den Staudammbau zu verhindern, denn da waren auch viele Arme, die auf den Staudammbau hofften. Es musste ein Prozess gelingen, in dem die Inverstoren vom ökologischen Aufbau der Region überzeugt werden mussten, so dass sie nicht nur Kredite von zwei Milliarden Euro in die Region investieren, sondern viel mehr. Es durfte nicht sein, dass Konzerne und Gewinnwillige sich die Gegebenheiten einer Region für einseitige Investitionen vormerken lassen und wenn es nicht klappt, abziehen und sich etwas Lukrativeres suchen. In so einem Fall könnte der große Bruder zum Vorschein kommen und die Investoren daran erinnern, die angedachte Summe nun in der Region breit gestreut zu investieren. Wer konnte nur als großer Bruder in Frage kommen. Ein Umweltorganisation, Gerichte, die EU oder die UNO. Der mächtigste große Bruder konnte nur die Vernunft sein, die mit Macht und Durchsetzungskraft ausgestattet sein musste und auf eine nachhaltige Entwicklung pochte.
In Deutschland angekommen, findest du den lang erwarteten Brief des PR-Unternehmens. Die Aufforderung, an einem internationalen Projekt mitzuarbeiten, nimmst du mit gespaltenem Herzen auf. Kannst du so ein Angebot annehmen? Vielleicht lässt sich das Konsortium doch zu einem alternativen Weg überreden, der trotzdem Gewinn verspricht. Du bist zu einem zweiten Gespräch eingeladen.
Du wirst bei deinem erneuten Besuch im Firmensitz völlig ruhig sein, vielleicht insgeheim dich als ein Unterbreiter des Anliegens der betroffenen Bevölkerung und des Tigris verstehen. Du wirst zuhören. Bis die Zeit da ist, deine Überzeugungen zu formulieren. Es kann nicht sein, dass du für die Realisierung eines zerstörerischen Projekts arbeitest, deshalb musst du deine Gedanken so formulieren, dass sie nicht die Absicht des Konsortiums angreifen, in der Region investieren zu wollen, sondern das einseitige Ziel einer Investition in Form des Staudammbaus.
Ein auf den Bedürfnissen und Kenntnissen der im Einflussgebiet des Tigris lebenden Menschen aufbauendes großes Investitionsvolumen würde die Vervielfältigung ihrer Lebensgrundlagen ermöglichen und zugleich die Stärkung der Biosphäre als fortwährendes Ziel umsetzen. Ein Kreditgeschäft, das auf kurzzeitige Rückzahlungsforderung mit hohem Zinsanteil abzielt, kann ein solches großräumiges Vorhaben nur unzureichend umsetzen. Eine Chance für eine weitsichtige Entwicklungsmöglichkeit wird sich im Umwidmen der bereits erfolgten internationalen Kreditabsicherungen auftun, die für die Errichtung des Ilisu-Staudamms vorgesehen sind, wirst du gelassen und ruhig formulieren.
Die Angestellten des Konsortiums werden schockiert sein, aber sie werden dich weiter aussprechen lassen, denn von deinen Aussagen versprechen sie sich, ihre eigene Strategie auszufeilen. Sie werden wissen wollen, was denn daran positiv sein soll, alternativ zu investieren.
Du wirst darauf hinweisen, dass zukunftssichere Wirtschaftsbeziehungen in der Region erst dann ausgleichsfähig verankert werden können, wenn die Finanzmittel in Verbindung mit detailliertem Prozesswissen einen großen Impuls freisetzen. Eine Entwicklung der Region, die auf die Potenzierung der Mensch-Natur-Kultur Beziehungen ausgerichtet sein wird, hätte alle Chancen, ein weltweiter Meilenstein zu werden. Ein Wirkungssymbol wie Hasankeyf – und viele andere Naturräume, Orte oder Denkmäler, die unter den Druck einer einseitigen Ausrichtung geraten sind und zunehmend zerstört werden, bekämen die Chance, in einem neuen, größeren Zusammenhang ihre Authentizität, ihre Würde und ihre großzügigen Ressourcen zum Nutze des Gemeinwohls zur Verfügung zu stellen.
Der Projektleiter des PR-Unternehmens wird deine Ideen als sehr kontrovers empfinden und auch seine Kollegen bitten, sie mit zu beurteilen. Sie werden dich darauf hinweisen, dass es kein Gremium gibt, in dem eine Ausarbeitung der erforderlichen Entwicklungen einer Region und die geschäftlichen Interessen möglicher Investoren ausgewogen zusammengefasst werden können. Diese Bemühungen würden keine Synergieeffekte erzielen, sondern gegenseitiges Zerreiben.
Du wirst daraufhin versuchen, ein Schema zu skizzieren, wie ein Podium aussehen müsste, auf dem sich Arm und Reich treffen könnten: Die Konflikte und Nöte, die heute weltweit die Tagesordnung bestimmen, werden sich nicht dadurch lösen lassen, dass der betrachtete Umfang immerzu reduziert wird, bis kein Sachverhalt mehr formuliert werden kann, wirst du einwerfen. Diese Zielrichtung des geringsten Übels verursacht die Zersetzung der Komplexität ohne ihre Auflösung. Ihre Bestandteile werden dadurch nach und nach aus dem Blickfeld verdrängt. Das führt zu keinen befriedigenden Lösungen, sondern hebt nur das Fragezeichen in der Formulierung des Problems auf und dient damit der Durchsetzung einseitiger Ansprüche.
Einen anderen Weg wirst du aufzeichnen: Alle beteiligten Parteien eines kontroversen Investitionsvorhabens sollten ihre spezifischen Standpunkte selbst formulieren dürfen und die von ihnen gewünschte Entwicklungsrichtung nennen können. Der Umfang der Beteiligung wird dann nach Bedarf und Einverständnis aller bereits Mitwirkenden schrittweise um neue Akteure, sowie Zusammenhänge erweitert werden. Bei jedem erforderlichen Ausdehnungsschritt müssten die vorherrschenden Kräfte zwischen Betroffenen und Agierenden erneut abgewogen werden. Ihre Auswirkung auch auf die neu hinzu getretenen Akteure positioniert werden. Ob bereits ein würdiger Rahmen erreicht war, der dem Kräfteverhältnis entspricht, wird sich daran zeigen, ob er den destruktivsten Spannungen zwischen „Verursachern“ und  „Leidtragenden“ standhalten kann. Das Ziel wäre es, einen Riss zu vermeiden, so dass eine erfahrbare Dynamik einsetzen kann, die zur integrativen Stabilität führt. Darin kann der ursächliche Konflikt objektiviert werden. Das hierbei erworbene Wissen um die Zusammenhänge sowie neue Kontakte, die sich im Verlauf des Prozesses ergeben, werden es allen Beteiligten – auch ohne Detailwissen –ermöglichen, den erzielten Konsens in seiner Realisierung und Anwendung zu unterstützen. Die in dem gesamten Verlauf aktivierten Kräfte fliessen als festigende Formkräfte in einen gewaltfreien und integrativen Prozess und können dadurch auf kürzestem Weg dem Wohl aller dienen. Der integrative Prozess setzt voraus, dass bei jeder folgenden Fragestellung das erreichte Zwischenergebnis von allen Beteiligten als gemeinsamer Standpunkt für den folgenden Schritt erachtet wird.
Du wirst gewissen Respekt bei deinen Zuhörern erzielen. Der Abteilungsleiter wird wissen wollen, wie du das Konsortium einschätzt und ob du dich für dessen Bekanntmachung bei der Bevölkerung einsetzen willst. Du wirst das Gespräch auf Hasankeyf bringen und erklären, dass du es als eine Tatsache ansiehst, dass die bereits getätigten Schritte für die Staudamm-Planung vor dem Baubeginn noch keine Überflutung verursachen können. Angesichts der zu erwartenden verheerenden Nachteile dürfte niemand den Kopf in den Sand stecken und zusehen, wie immense Summen unter einseitigen Forderungen zu unumkehrbaren Versäumnissen führen werden. Diese Summe als direkte, sinnvolle Investition in Form breit gestreuter ökologischer Aufbaukredite in der Region einzusetzen wird neben dem Erhalt einmaliger historischer Reichtümer auch Frieden, Wohlstand, Bildung und nicht zu Letzt die Garantie für reichlich sauberes Trinkwasser und Entlastung des Ökosystems erzielen.
Die gegenwärtigen internationalen Abkommen zur Atmosphärenreinhaltung bieten bereits eine Grundlage für weiterführende Schritte, für die eine Rückkopplung im globalen Maßstab unumgänglich sein wird. Letztendlich werden die hier beschlossenen Ausgleichszahlungen die großen Summen bilden, welche den finanziell benachteiligten Regionen eine stabile Entwicklung in Aussicht stellen können. Auf der Basis einer positiven Wirtschaftsentwicklung in den einzelnen Regionen kann dann durch gegenseitiges Vertrauen ein grenzenübergreifendes Win-win Situation zustandekommen.
Du wirst wissen wollen, welche Aufgaben das Unternehmen mit der ausgeschriebenen Stelle verbindet. Die Herren werden sich zurücklehnen. Langsam wird es zur Sprache kommen, dass man erwartet, die Projekte des Konsortiums für die türkischsprachige Presse, auf Veranstaltungen, Tagungen, in den Kommunities und bei anderen Gelegenheiten aus der Sicht eines aus dem Land stammenden vertreten zu wissen. Du wirst sagen, dass deine Mitarbeit nur unter der Bedingung möglich ist, dass der Ilisu-Staudamm nicht als unabdingbare Zielsetzung angesehen wird, sondern eine nachhaltige Gesamtentwicklung der Region in Vordergrund stehen muss. Alle würden still werden und der Raum würde sich leeren nach und nach.

August 2008

infos zu den texten

Der Text "Am ufer die Zukunft" entstand für die Ausstellung „neue Ufer Hasankeyf“, die als Beitrag zum Augsburger Friedensfestprogramm Pax 2007, das den Themenbereich „Wasser und Frieden“ zusammenfasst konzipiert wurde. Die Ausstellung setzt sich aus Architektur- und Städtebau-Studien des Lehrstuhls für Planen und Bauen im Ländlichen Raum. Prof. Dipl. -Ing. Matthias Reichenbach-Klinke hielt das 2-Semesterige Vertiefungsseminar, das die Architektur in Orientalischen Raum sowie die Auswirkungen massiver Umsiedlungsvorgänge für die betroffenen Menschen zu Thema hatte. Die StudentInnen zeigten durch eigene Entwürfe auf, dass angesichts massivster Eingriffe in eine Region, z.B. durch Stauseebildung, es nicht außer Acht gelassen werden darf, dass auch Menschen nach Scheitern der Protestaktionen gegen solche Vorhaben weiterhin Unterstützung für angemessene Entschädigung in Form von zukunftsfähiger Siedlungen und angemessener räumlicher Lebens-Qualität benötigen.

Autor:
Ibrahim Kaya Dipl. -ing(fh) Architektur, freier Schriftsteller, Teilnehmer an der Exkursion Ende März 2007.