Am ufer die Zukunft

Die unwiederbringliche Auflösung der Vorstellung, dass die Welt zentralistisch strukturiert sei, erlebte ich während unserer Hasankeyf-Exkursion. Über lange Zeit hatte sich in mir ein mysteriöser Nebel festgesetzt, der mein Bild von Südost- und Ostanatoliens verdeckte. Nicht primär als Landschaft, Lebens- und Kulturraum galt es mir, sondern als aktueller Problemherd und Zankapfel zwischen den verschiedensten Mächten und Ansprüchen. Bis ich mich physisch mittendrin befand. Ich sah unterschiedlichste grandiose Landschaften, die ich bis dahin nicht kannte, und einen echten Ausdruck der Ausweglosigkeit von vielen Menschen angesichts der technischen Machbarkeit übermächtiger Planungen. Gleichzeitig begann in mir ein Prozess des Hinterfragens. Die Städte, glaubte ich bis dahin, seien im Vergleich zu kleineren Siedlungen wichtiger, und die Großstädte wiederum wichtiger als Mittelstädte, dann die Spitze der Pyramide, die Megastädte in unfassbarer Größe und Komplexität, alles beherrschend. Auf unserer Fahrt waren wir außer in Hasankeyf, Halfeti und „Cumhuriyet örnek köyü“ auch in Ankara, Diyarbakir, Dargecit, Ilisu, Midyat, Mardin, Urfa, Nemrut dagi, Adiyaman und Malatya. Ich gehe auf die letzteren Stationen nicht näher ein, weil es den gegebenen Rahmen sprengen würde.

Die qualitative und zukunftssichere Ausformung einer Städtebau und Architektur einem Siedlung oder Region benötigt in erster Linie keine spektakulären Entwürfe, sondern eine angemessene Selbständigkeit sowie mit eigenen Mitteln und Leistungen machbare Versorgungsautarkie die in Grundzügen im Bestand bereits ablesbar sein sollten. Auf der suche nach dieser einfachen aber unter jetzigen Sachzwängen schwer zu verwirklichenden Notwendigkeiten können Raumentwicklungsproblematiken betrachtet werden, was aber nicht davor abschrecken sollte, eine Methode der maximal besten Machbarkeit als Forderung aufzustellen, und nicht abschwächende Kompromisse einzugehen. Schließlich geht es uns alle an, was im globalem Kontext zu besseren klimatischen Verhältnissen, zur Befriedung konfliktreicher Zonen sowie zur Linderung des Elends auf der Erde führen könnte. Es zeigt sich durch immer wieder selbst konterkarierende Massnahmenfolgen, dass Zentralismus dazu nicht in der Lage ist, deshalb wird hier ein anderer, gangbarer Weg der dynamischen Stabilität vorgeschlagen.
Was bewegt uns an Hasankeyf ? Was zieht uns dorthin?
Ein Ort, verspielt und geheimnisvoll. Umspielt von Tigris, von Hügel hinter Hügel umrahmt. In Schluchten übereinanderliegende Bauten und Ruinen vergangener Kulturen, märchenhaft modelliert. Die Hoffnungslosigkeit, die die Menschen aussprechen, lässt sich an dem Zustand der Wohngebäude erahnen. Die Gastlichkeit ist informell und nicht huldigend, wie wir es vielleicht erwartet hätten. Sie haben viele Gäste gehabt, die sich für Hasankeyf und ihre Situation interessieren und das Beste für sie wollen. Diese öffentliche Interessens- und Solidaritätsbekundung der Menschen von überallher hat sie bescheiden werden lassen. Ihre Ängste basieren auf den unvermeidlichen Folgen der Tatsache, dass die mehrfach beschlossene Errichtung des Ilisu-Staudamms nun wahr wird. Ihre Tragödie ist auf der Ebene der global diskutierten Themen und Zusammenhänge angekommen, denn sie erweist sich als ein Akt im Ringen zwischen den widersprüchlichen Erfordernissen technologischer Großprojekte und ökologischer Nachhaltigkeit. Vor diesem Hintergrund bestehen die Menschen aus dem Tigristal darauf, wenn auch nicht laut, dass der „Bann“, der ihnen und Hasankeyf im Namen einer „neuen Zukunft“ auferlegt wurde, wieder abgenommen werden muss. Es ist ihre Aufgabe, ein würdiges Leben in Hasankeyf aufzubauen. Viele, auch hochrangige BesucherInnen beweisen durch ihr Kommen, dass Hasankeyf weltweit noch viele Freunde braucht.
Bürgermeister Vahap Kusum und weitere Stadträte schenkten unserer Exkursionsgruppe Zeit und Freundlichkeit. Am Abend, im Nebenraum des Teehauses im Rathaus, zerrte die Konzentration aller Beteiligten wie ein ungeduldiges Kind am Mantel der Aussichtslosigkeit. Herr Kusum reagierte auf die mitgebrachten Entwürfe unserer Arbeitsgruppen mit Ablehnung. Die StudentInnen, die ihre Arbeiten präsentierten, mussten auf den Verlauf  der Uferkante hinweisen, die der Stausee bilden würde, und von dem sie in einigen Entwürfen als dem ungünstigsten Fall ausgehen. Er sagte direkt: Er möchte keine Zeichnung ansehen müssen, die Hasankeyf in versunkenem Zustand darstellt.
Daraufhin bekräftigten wir, dass die vorliegenden Entwürfe keine von uns erwünschte Situation als Zielvorstellung haben und wir auch von niemandem beauftragt sind, ihm Pläne vorzulegen. Es geht nicht darum, irgendeine Situation zu beschönigen. Unsere Absicht ist, Vorschläge zu entwickeln, welche die angekündigte Verdrängung der Bewohner aus Hasankeyf und weiteren Orten entlang des Tigris in ihrer ganzen Tragweite begreiflich machen. Mit raumplanerischen und architektonischen Methoden, die praktischen Auswirkungen großer Veränderungen wie Umsiedlungsvorgänge zu erfassen. Und auf diese Weise auch die Investoren (und Befürworter großer Staudammprojekte generell) auf die Notwendigkeit eines angemessenen Verlustausgleichs hinzuweisen. Natürlich wäre es ein großer Erfolg, wenn unsere Arbeiten zusammen mit vielen anderen Bemühungen dazu beitragen könnten, einen Konsens für ökologisch unbedenkliche Lösungen zu finden, die für eine friedliche Entwicklung der Region viel sinnvoller wären. Hasankeyf könnte dann am jetzigen Ort erblühen. 
Auf die Frage, was er denn selbst für Hasankeyf wünscht, wenn der Staudamm nicht gebaut würde, ging der Bürgermeister ausführlich ein. Er stellte ein auf Tourismus basierendes Entwicklungskonzept vor: In Sichtweite der jetzigen Ortschaft könnte eine neue Siedlung gebaut werden für die Bewohner des in den 70er Jahren von staatlicher Seite provisorisch auf archäologisch bedeutendem Terrain errichteten Stadtteils. Der historische Bestand  kann rekonstruiert werden. Er wurde damals durch den Bauunternehmer willkürlich zerstört, ferner können die noch im Boden zu vermutenden archäologischen Schätze gehoben werden. Hasankeyf zählt zu den Wiegen der Menschheit. Eine solche Entwicklung würde es zu einem touristisch bedeutenden Zentrum machen und sich in Kürze wirtschaftlich amortisieren. Die bisherige Vernachlässigung der Region wäre dadurch zum Teil ausgleichbar.
In entspannter Atmosphäre ging Herr Kusum auf weitere Fragen ein und empfahl allgemein, eine Planung nicht nur nach hohem europäischen Standard, sondern auch nach den nur langsam wachsenden Entwicklungmöglichkeiten der zur Zeit überwiegend sich selbst versorgenden Bevölkerung auszurichten.

Unsere Vorgehensweise trifft bei verschiedensten Gesprächspartnern anfangs auf Ablehnung. Wir begeben uns aus eigenem Auftrag in spannungsgeladenes Terrain und bearbeiten Themen, die als nicht lösbar erscheinen. Was passiert, wenn eine solche eigenständige Vorarbeit nicht stattgefunden hat, sahen wir während unserer Exkursion in der Überflutungszone des Birecik-Stausees am Euphrat.
Neuhalfeti nahmen wir vom Bus aus wahr. Wir fuhren in eine Nebenstraße, um das Stadtbild länger auf uns wirken zu lassen. Die Gebäude waren größtenteils von derselben Form und demselben Typus: EG Arbeitsmöglichkeit, OG Wohnungen und alle im gleichen Abstand zueinander angeordnet, so dass das Umsiedlungsprojekt eine abweisende Starre vermittelte. Mit einem Gefühl der Frustration fuhren wir weiter nach Halfeti. Der Birecik-Stausee hatte die tiefer gelegenen Straßenzüge und Obstgärten überflutet und den verbliebenen Quartieren eine spürbare Depression aufgeladen. Aus einer floriernden Brückenstadt wurde ein Ort am See, der den Besuchern ein bizarres Bild vermittelt. Das pulsierende Leben, von dem die alten Fotografien und Erzählungen im Ufer-Café zeugten, war nur mehr in Ansätzen zu erahnen. 
Der Bürgermeister Mahmut Özdemir übte abwartende Schweigsamkeit und ließ uns unsere Ansätze für die Wiederbelebung ausführlich erklären, die wir im gegenwärtigen Halfeti bereits erkennen konnten. Das deutlichste Merkmal des Ortes ist der Bestand an anonymen historischen Bauten mit verschiedenster Typologie. Sie strahlen jeder für sich ein beeindruckendes Selbstbewusstsein aus und tragen so zu dem unverwechselbaren Charakter des Ortes bei. Um diese Gebäude zu erhalten und zu nutzen, sind engagierte Bauherren, erfahrene Handwerker und Restauratoren nötig. Sie lebten früher hier, das bezeugen diese teils noch genutzten Gebäude. Die Chance, ein neues Arbeitsleben zu schaffen, das Ausbildungsplätze und höhere Bildungs Changen bietet, ist potenziell gegeben. Die dann restaurierten Gebäude könnten zum Teil  für Tourismus genutzt werden und die regionale Handelsinfrastruktur verstärken, die mit ökologischer Landwirtschaft ergänzt werden sollte. Auf diese Weise könnten die vorhandenen Qualitäten dauerhaft gesichert werden und nutzbar bleiben.

Eines der größten Problem stellt seit der Überflutung die Abwanderung der überwiegend jüngeren Bewohner dar. Die Abwanderung und Landflucht ist keine plötzliche Entscheidung einzelner und wird wie im Fall Halfeti oft von einer gravierenden Verschlechterung der allgemeinen Lebensbedingungen in einer Region ausgelöst.

Wenn am neuen Standort nachweislich bessere Entwicklungsmöglichkeiten zu erwarten sind, gibt es auch die Möglichkeit gewünschter und geplanter Gruppenumzüge der Entschlossenen in die nähere Umgebung des ursprünglichen Ortes. In der Provinz Malatya wurden wir in dem Dorf namens „Cumhuriyet Örnek Köyü“, übersetzbar als „Vorbilddorf der Republik“, erwartet. Die Ahnung bestätigte sich. Wir kamen in eines der wenigen realisierten „Köy-Kent-Projesi“ („Weiler-Zusammenlegugs-Projekte“) der 70er Jahre, das leider nicht viele weitere Beispiele nach sich gezogen hat. Die Bewohner einiger zerstreut liegender kleiner Orte am Berghang waren miteinander nachbarschaftlich verbunden und wünschten gemeinsam im Rahmen des „Köy-Kent-Projesi“ in einem neu zu errichtenden Dorf auf flacherem Gelände zu leben, von wo aus sie ihre Felder weiterhin bewirtschaften konnten. Hier entstanden neben modernen Dienstleistungen, wie Schulen, Handel, Gesundheitszentrum und Badehaus auch landwirtschaftliche Lager, Verarbeitungsgebäude und Anschluss an Elektrizität und Fernstraße. Kulturell und wirtschaftlich trug dieser Aufbruch zum gesellschaftlichen Erfolg der Menschen viel bei. Inzwischen gibt es in jeder Familie mehrere Hochschulabsolventen. Die Bildungsniveau liegt weit über dem Durchschnitt in den Städten. Dennoch ist das neu gegründete Dorf nicht verlassen. Im Gegenteil; es floriert und hat inzwischen internationale Handelsbeziehungen und erzeugt im ökologischen Anbau prämierte Trockenfrüchte für das Warensortiment wichtiger europäischer Anbieter.
Diese Begegnungen und Erfahrungen zeigen mir, dass die Modernität eines Ortes nicht von aufwendiger Technologie und irreversiblen Eingriffen in die Natur ermöglicht wird, sondern vor allem von einer begründbaren Aussicht, dass private Investitionen in absehbarer Zeit nicht zu Fehlinvestitionen werden können. Anders ausgedrückt: Durch vernünftige Raum- und Wirtschaftsordnung erzeugte Planungssicherheit setzt ein Höchstmaß an Kreativität frei. Eine durchdachte Vorgehensweise, die Entwicklungschancen offen hält und neue Ressourcen schafft, hilft jetzigen und kommenden Generationen ungeahnte Möglichkeiten zu erschließen.
Hasankeyf entwickelte sich bisher nicht. Die bereits Jahrzehnte andauernde Unsicherheit durch die immer wieder angekündigte Überflutung sowie das von der Denkmalbehörde erlassene generelle Verbot für Baugenehmigungen negieren die Zukunftsfähigkeit jeglicher Investition und entmutigen die Menschen, weiterhin dort zu bleiben.
Halfeti befindet sich in einem aufgezwungenen Trauma und bedarf sanfter Unterstützung. Die  Bewohner könnten dadurch für neue Wertschätzung ihrer Stadt gewonnen werden, um sie mit Eigeninitiative in Verbindung mit Neu-Halfeti erstehen zu lassen. Eine aussichtsreiche Vorgehensweise für einen Erfolg bedarf vor allem regelmäßiger Wiedergutmachungszahlungen seitens der Betreiber des Birecik-Staudamms.
In „Cumhuriyet örnek köyü“ führt das stetig wachsende Bildungsniveau auch zur Abwanderung, die meisten Akademiker aus den Bauernfamilien leben in den Städten oder im Ausland. Der relative Reichtum der im Dorf Gebliebenen leitet sich hier in erster Linie von der Entscheidung der Familienverbände ab, nicht gänzlich in die Städte abzuwandern. Die Familienangehörigen, die im Dorf als Landwirte tätig sind, und die, die in den Städten leben, unterstützen sich rege je nach den Möglichkeiten, die aus dem jeweiligen Lebensraum erwachsen.
An diesen drei Beispielen sehen wir unterschiedlichste Rahmenbedingungen, denen ein Ort ausgesetzt sein kann. Diese stehen im regionalen, nationalen und nicht selten im globalen Kontext. Eine grundlegende Veränderung der Bevölkerungsverteilung eines Landes führt oft zu einer drastischen Verzerrung der Siedlungsgebiete: von Geisterdörfern bis zu Megastädten.
Die Abwanderung der bäuerlichen Selbstversorger aus der ländlichen Umgebung sowie die fehlende infrastrukturelle Vorausplanung stehen in einem erweiterten Zusammenhang, der sich in anderer Form auch in zunehmend wachsenden Städten und Ballungszentren wie z.B. dem Großraum Istanbul ablesen lässt. Der vorherrschende Wachstumsdruck zeigt sich im Alltag durch kollabierenden Straßenverkehr, rationierte Energie- und Trinkwasserversorgung, ineffiziente Lebens- und Bauweisen, Schrumpfung ökologischer Flächen innerhalb und außerhalb der bebauten Gebiete usw. Diese Missstände sind verzahnt mit geringen Einkünften für Erwerbsabhängige, die diesen keinen erträglichen Lebenstandard ermöglichen. Die Befriedigung der Bedürfnisse, die das Leben in den Städten mit sich bringt, setzt eine ausgewogene Versorgung mit Gütern voraus. Die wirtschaftlichen und infrastrukturellen Möglichkeiten für die Beschaffung dieser Güter müssen vorausschauend und flexibel geplant werden. Denn die Unsicherheit der Menschen, dass sie unter den vorherrschenden Umständen  ihr Leben nicht aussichtsreich planen können, führt oft zu gesellschaftlichen Konflikten.
Die Zuflüsse der industriell-städtischen Komplexe benötigen Energie, Nahrung und Rohstoffe erfolgen gegenwärtig primär über Fernversorgung, mittels Verkehrsnetzen, Pipelines, Hochspannungsnetzen aus Großanlagen, Erzabbaugebieten und überwiegend agro-industrieller Produktion. Die Sicherstellung der notwendigen Ressourcen hängt von Einflüssen wie den vorherrschenden Wirtschaftsmechanismen, dem angewendeten technischen Standard sowie der politischen Motivation der Entscheidungsträger ab.
Um die Aneignung und Kontrolle der gigantischen Kraft- und Materialmengen wird heute politisch und wirtschaftlich überwiegend mit harten Strategien auf globaler Ebene gerungen. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein solcher Kampf niemals für einen Akteur entschieden werden kann, da er von natürlichen Prozessen beeinflusst wird, die sich dynamisch artikulieren können, ohne einem menschlichen Kalkül zu folgen.
Neben den bereits gennanten sozio-kulturellen Umwälzungen wie der Landflucht und Konflikten in den Städten tritt auch eine zunehmend einseitige Belastung des gesamten Ökosystems hervor. Inzwischen treten erdrückende Spuren auf, welche auf eine deutliche Veränderung übergeordneter Zusammenhänge hinweisen. Das zeigt sich weltweit unter anderem am Rückgang der Artenvielfalt sowie der Vegetationsdichte.
Auch wenn wir inzwischen die Einschätzung teilen mögen, dass das Leben auf der Erde viele Arten und unterschiedlichste Lebensräume hervorbringt und auf diese Weise als Gesamtheit gegen partielle Zerstörungen abgesichert ist, beobachten wir mit zunehmender Beunruhigung die vermehrt auftretenden Naturkatastrophen. Die jüngste, seit 200 Jahren und noch weiter andauernde Missachtung dieses Grundempfindens zeigt deutlich ihre Auswirkungen in Form des menschengemachten Treibhauseffekts.
Durch die Ausdünnung der Netze von Beziehungen, die die notwendige Dynamik der Selbststabilisierung ermöglichen, dauert die Wiederherstellung der Ökosysteme nach extremen Ereignissen immer länger.

Wäre der Verzicht auf weitere dominante Versorgungsstränge ausreichend, um die Beschleunigung des Treibhauseffekts einzudämmen? Wodurch lässt sich die Akzeptanz für dezentrale und durch jeweilige Standortautarkie dynamisch stabilisierbare Versorgungsnetze steigern? Ist eine kulturelle und sozio-politische Entwicklung absehbar, welche Lebensverbände, die auf Selbstversorgung basieren, zu potenziellen und gleichberechtigten Partnern der Städte macht?

Ein auf den Bedürfnissen und Kenntnissen der im Einflussgebiet des Tigris lebenden Menschen aufbauendes großes Investitionsvolumen kann die Vervielfältigung ihrer Lebensgrundlagen ermöglichen und zugleich die Stärkung der Biosphäre als fortwährendes Ziel umsetzen. Voraussetzung dafür wäre ein politischer Wille, der die Gleichrangigkeit aller Regionen und Siedlungsmaßstäbe als Ziel verfolgt. Ein Kreditgeschäft, das auf kurzzeitige Rückzahlungsforderung mit hohem Zinsanteil abzielt, kann ein solches großräumiges Vorhaben nur unzureichend umsetzen. Eine Chance für eine derartige Entwicklungsmöglichkeit ließe sich im Umwidmen der bereits erfolgten internationalen Kreditabsicherungen sehen, die für die Errichtung des Ilisu-Staudamms vorgesehen sind. Vorausgesetzt, der gemeinsame Wille zur erweiterten Betrachtung der Gegebenheiten und Ziele obsiegt.
Zukunftssichere Wirtschaftsbeziehungen in der Region werden erst dann ausgleichsfähig verankert, wenn die Finanzmittel in Verbindung mit detailliertem Prozesswissen einen großen Impuls freisetzen. Eine Entwicklung der Region, die auf die Potenzierung der Mensch-Natur-Kultur Beziehungen ausgerichtet ist, hätte alle Chancen, ein weltweiter Meilenstein zu werden. Ein Wirkungssymbol wie Hasankeyf – und viele andere Naturräume, Orte oder Denkmäler, die unter den Druck einer einseitigen Ausrichtung geraten sind und zunehmend zerstört werden, hätten die Chance, in einem neuen, größeren Zusammenhang ihre Authentizität, ihre Würde und ihre großzügigen Ressourcen zum Nutze des Gemeinwohls zur Verfügung zu stellen.

Die gegenwärtigen internationalen Abkommen zur Atmosphärenreinhaltung bieten bereits eine Grundlage für weiterführende Schritte, für die eine Rückkopplung im globalen Maßstab unumgänglich erscheint. Letztendlich würde ein Zusammenwirken der hier beschlossene, Ausgleichszahlungen die großen Summen bilden, welche den finanziell benachteiligten Regionen eine stabile Entwicklung in Aussicht stellen. Auf der Basis einer positiven Wirtschaftsentwicklung in den einzelnen Regionen kann dann durch gegenseitiges Vertrauen eine grenzenübergreifende Gleichberechtigung erarbeitet werden.

Was können Menschen innerhalb des ihnen vorgegebenen Rahmens in Bezug auf Hasankeyf dazu beitragen:
- damit sie sich würdige und vielfältige Existenzgrundlagen schaffen können, mit dem Ziel, das Wohlstandsgefälle zwischen West- und Osttürkei auszugleichen und somit der Landflucht und der problematischen Verstädterung entgegenzuwirken,
- damit sie die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU unterstützen können;
- damit die zunehmende Nachfrage nach Energie, Wasser, Nahrungsmitteln, Naturstoffen mit direkt erneuerbaren Methoden befriedigt werden kann;
- damit in der Region eine zukunftssichere Infrastruktur sowie vielfältige und ertragreiche Arbeitsmöglichkeiten entstehen und ausgebaut werden können;
- damit über einen engagierten Tourismus die gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Schätze neue Bedeutung finden und dadurch auch individuelle Kontakte zu Menschen und Gruppen aus allen Erdteilen aufgebaut und gepflegt werden können;
- damit Gesundheitsversorgung sowie eine moderne und unabhängige Bildung auch in die entlegensten Dörfer gelangen kann;
- damit die Artenvielfalt sich über gerodete Böden ausdehnt und die Kulturlandschaft der klimatischen Zone entsprechend zur raschen Stabilisierung der Biosphäre beitragen kann;
- damit eine ertragreiche biologische Landwirtschaft entstehen kann;
- damit sie für die regionalen Güter langfristige Handelsbeziehungen zu fairen Bedingungen aufbauen können;
- damit die Wasserfülle auf lange Sicht gesichert bleibt;
- damit in der Region eine Epoche der Gleichberechtigung und der Toleranz unter Volksgruppen, Religionen, Sprachen und verschiedenen Lebensanschauungen anbricht;
- damit sie einen deutlichen Beitrag zur Lösung der Hungerproblematik auf der Welt und zur Entspannung von Konflikten in Nahost leisten können;
- damit die Summe ihrer Massnahmen im globalen Kontext gesehen der Abschwächung des Treibhauseffektes dient?

Der weltpolitische Kontext, worin es gegenwärtig um Hasankeyf geht, erscheint wie die Vermengung zahlloser Zutaten aus Absichten und Ängsten in einem übervollen Topf, warmgehalten durch die eingerastete Haltung der Entscheidungsträger.
Die großen Potenziale und die vielen Möglichkeiten, die in Südostanatolien vorhanden sind, lassen sich durch die Investitionsbereitschaft der internationalen und nationalen Banken belegen.
Überdies ist die Tendenz abzulesen, dass überschaubare und kontrollierbare Investitionen in der Region zu einer Konfliktminderung führen können, worauf die Kreditgarantien seitens Deutschlands, Österreichs und der Schweiz hindeuten, und was im Hinblick auf die Integrierbarkeit von Türkei und EU von Interesse sein muss.
Zusätzlich spricht die Vorgehensweise des Konsortiums aus ausländischen und inländischen Konzernen und Industrieunternehmen für die aus der Region erwartete Effektivität und den Wunsch der Anleger nach Unterstützung strahlungsfreier und abgasarmer Energiequellen. Auf der anderen Seite sind alle bisherigen Absichten der genannten Parteien auf die Errichtung des Ilisu-Staudamms ausgerichtet, welcher der Energiegewinnung, der industriellen Landwirtschaft sowie dem internationalen Wasserhandel als möglicher politischer Machtfaktor dienen wird. Unter den jetzigen Umständen begünstigt dies primär die Fortsetzung der – bereits beschriebenen – problematischen Verstädterung. Es ist absehbar, dass bei der Realisierung und beim Betreiben des Ilisu-Staudamms in der Region unter den jetzigen Voraussetzungen eine Wirtschaftsschicht etabliert werden wird, die sich von den Lebensumständen der ländlichen Bevölkerung abkoppelt. Sie wäre somit nicht in der Lage, eine qualitative Besserung  der Umstände zu bewirken.

Die interdisziplinäre Beschäftigung mit dem Staudammprojekt zeigt ein Spektrum auf, worin sich Argumentationssysteme in Bezug auf die beschriebene Realität bewegen. Das Feld spannt sich zwischen den Polen der „stabilisierenden Dynamik der Ökologie“ und der „zunehmend desintegrierenden Starre“. Um eine Vorstellung von der Vorgehensweise zu ermöglichen, die sich aus diese Begriffsbildung ergibt, ist eine Orientierung an integrierenden und ausgleichenden Tendenzen empfehlenswert.

Die vorliegenden rechtsstaatlichen Gesetzestexte wie örtliche Satzungen, nationale Gesetze, EU-Gesetze sowie Handels-, Umwelt-, und Menschenrechtsabkommen und Abkommen zur Erhaltung von Kulturdenkmälern wurden durch Erfahrung und Ausgleich mit Konflikten, sowie Entwickelbarkeit der jeweiligen satzungsgebenden Körperschaft hin auf der Grundlage von Prämissen ausgerichtet. Es liegt in der Natur der Sache, dass bei allen Konfliktfällen, die sich nicht durch private Abkommen regeln lassen, gleichzeitig verschiedene Auslegungen der in die Verhandlungen einbezogenen Gesetzestexte möglich sind. Ein Prozess, der Spannungen auf den jeweiligen Ebenen ausgleicht und zu einem durchführbaren integrativen Ergebnis führt, kann den primären Erhaltungs- und Wirkungswillen unterschiedlicher Parteien im Sinne des Gemeinwohls zur produktiven Entfaltung bringen. Schließlich ist nichts Verwerfliches dabei, wenn Menschen sich annähern oder in örtlichem Zusammenhang wirken wollen. Es geht um die Potenziale, die eine solche Situation birgt, und ob sich dadurch eine Verantwortlichkeit ergibt, sie unter Berücksichtigung der Mittel und Zeitfaktors, freizusetzen.       

Die Konflikte und Nöte, die heute weltweit die Tagesordnung bestimmen, lassen sich nicht dadurch lösen, dass der betrachtete Umfang immerzu reduziert wird, bis kein Sachverhalt mehr formuliert werden kann. Diese Zielrichtung des geringsten Übels verursacht die Zersetzung der Komplexität, wodurch ihre Bestandteile nach und nach aus dem Blickfeld verdrängt werden. Das führt zu keiner befriedigenden Lösung, sondern hebt nur das Fragezeichen in der Formulierung des Problems auf und dient damit der Durchsetzung einseitiger Ansprüche. Ein anderer Weg, der bereits in konsensorientierten Prozessen angewendet wird, fordert  alle Parteien heraus, ihre spezifischen Standpunkte zu formulieren und gewünschte Entwicklungsrichtungen zu nennen. Der Umfang der Beteiligung wird dann nach Bedarf und Einverständnis aller bereits Mitwirkenden schrittweise um neue Kategorien und/oder räumliche Zusammenhänge erweitert. Bei jedem erforderlichen Ausdehnungsschritt des Betrachtungsrahmens werden die vorherrschenden Kräfte zwischen Betroffenen und Agierenden erneut abgewogen und unter Einbeziehung der Auswirkungen auch auf die neu hinzugetretenen Akteure positioniert. Ob nun bereits ein würdiger Rahmen erreicht ist, der dem Kräfteverhältnis entspricht, zeigt sich daran, ob er den destruktivsten Spannungen zwischen „Verursachern“ und  „Leidtragenden“ standhalten kann. Das Ziel ist, einen Riss zu vermeiden, bis eine erfahrbare Dynamik einsetzt,die zur integrativen Stabilität führt worin der ursächliche Konflikt objektiviert werden kann. Das hierbei erworbene Wissen über die Zusammenhänge sowie neue Kontakte, die sich im Verlauf des Prozesses gebildet haben, ermöglichen es allen Beteiligten – auch ohne Detailwissen –, den erzielten Konsens in seiner Realisierung und Anwendung zu begleiten. Die in dem gesamten Verlauf aktivierten Kräfte fließen als festigende Formkräfte in einen gewaltfreien und integrativen Prozess und können dadurch auf kürzestem Weg dem Wohl aller dienen.
Der integrative Prozess setzt voraus, dass bei jeder folgenden Fragestellung das erreichte Zwischenergebnis von allen Beteiligten konsensual als Standpunkt für den folgenden Schritt erachtet wird.

Diese Beschreibung ist ein Handlungskonzept für wissensintensivierende Lösungsfindung. Im Vergleich zur Anwendung normativer Methoden bedarf sie mehr Zeit. Die veranschlagte Zeitspanne wird für die Mehrung von Erkenntnissen durch Experimente, Annäherung und Verständnis der Beteiligten für die jeweiligen Bedürfnisse verwendet. Daraus erwächst die Grundlage der Verantwortung für das gemeinsam Erarbeitete und die Identifikation mit dessen Entstehungsprozess.

In Bezug auf Hasankeyf kann abschließend als unumgänglich angesehen werden, dass die bereits getätigten Schritte für die Staudamm-Planung vor dem Baubeginn noch keine Überflutung verursachen. Angesichts der zu erwartenden verheerenden allgemeinen Nachteile die bereits erwähnt sind, dürfen wir nicht den Kopf in den Sand stecken und zusehen wie immense Summen unter einseitigen Gesetzes-Interpretationen zu unumkehrbaren Versäumnissen führen werden.
Diese Summe als direkte, sinnvollen Investition in Form breit gestreuter ökologischer Aufbau- Kredite in der Region würden neben dem Erhalt einmaliger historischer Reichtümer auch Frieden, Wohlstand, Bildung und nicht zu letzt die Garantie für reichlich sauberes Trinkwasser und Entlastung des Ökosystems mit sich bringen.

Juli 2007

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